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Germinal

Germinal

Titel: Germinal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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fünfhundertvierundzwanzig Meter hinab; allein er fühlte endlich eine Leitersprosse unter den Füßen. Vorsichtig stieg er hinab. Johannes mußte nichts gehört haben; Etienne sah unter sich das Licht immer tiefer versinken, während der Schatten des Kleinen, unheimlich und kolossal, sich tanzend fortbewegte, dem Wackeln seiner kranken Beine folgend. Er hüpfte mit der Behendigkeit eines Affen, hielt sich mit den Händen, mit den Füßen, mit dem Kinn fest, wenn die Leitersprossen fehlten. Die sieben Meter langen Leitern folgten aufeinander, die einen noch stark, die anderen schwankend, krachend, mit dem Brechen drohend; die schmalen Absätze waren so grün, von Fäulnis überzogen, daß man wie auf Moos ging; und in dem Maße, wie er hinabstieg; ward die Hitze immer drückender; es war eine wahre Backofenhitze, die aus dem Förderschachte kam, wo es glücklicherweise seit dem Streik ziemlich stille war; denn in der Arbeitszeit, wenn der Herd täglich seine fünftausend Kilogramm Kohle verschlang, hätte man hier keinen Schritt gehen können, ohne daß einem alles Haar am Leibe abgesengt wäre.
    »Verdammte Kröte!« fluchte Etienne, dem schier der Atem ausblieb. »Wo zum Teufel geht er denn hin?«
    Schon zweimal war er in Gefahr abzustürzen. Seine Füße glitten auf dem feuchten Holze aus. Wenn er wenigstens eine Kerze gehabt hätte wie der Junge; aber er stieß sich jeden Augenblick an; er war nur von dem fahlen Lichtschein geleitet, der unter ihm forteilte. Es war wohl schon die zwanzigste Leiter, und der Abstieg dauerte noch fort. Jetzt begann er, sie zu zählen; einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Es ging noch immer tiefer hinab. In der erstickenden Hitze summte ihm der Kopf; er glaubte, in einen Glutofen hinabzusinken. Endlich gelangte er zu einer Galerie, wo er Johannes mit seinem Licht in einem Seitengang verschwinden sah. Dreißig Leitern: Das machte ungefähr zweihundertzehn Meter.
    »Wird er mich noch lange herumführen?« dachte er. »Sicherlich ist's der Stall, wo er sich vergräbt.«
    Doch der Gang, der zum Stalle führte, war auf der linken Seite durch einen Einsturz verlegt. Die Reise begann von neuem und war jetzt noch schwieriger und gefährlicher als zuvor. Fledermäuse flogen scheu durch die Gänge oder klebten an dem Gewölbe. Er mußte sich sputen, um das Licht nicht aus den Augen zu verlieren; er betrat also die nämliche Galerie. Allein wo das Kind leicht mit der Geschmeidigkeit einer Schlange durchkam, schund er sich die Haut von den Gliedern. Die Galerie verengte sich -- gleich allen alten Gängen -- mit jedem Tage mehr unter dem unaufhörlichen Druck des Erdreiches; an manchen Stellen war es nur mehr ein Schlauch, der auch bald verschwinden mußte. Bei der Verengung barsten die Hölzer, und Etienne war bei jedem Schritte in Gefahr aufgespießt zu werden. Mit großer Vorsicht drang er vor auf den Knien oder auf dem Bauche immer die tastenden Hände voraus. Plötzlich fühlte er eine Schar Ratten über seinen Körper dahinlaufen.
    »Donner Gottes! Sind wir endlich zur Stelle?« brummte er erschöpft und atemlos.
    Er war am Ziele angelangt. In einer Entfernung von einem Kilometer erweiterte sich der Schlauch, und er gelangte in einen Abschnitt, wo die Galerie wunderbar erhalten war. Es war der hintere Teil der ehemaligen Abfuhrgalerie, die quer in das Gestein gehauen, einer großen, natürlichen Grotte glich. Doch Etienne mußte jetzt haltmachen; er sah aus der Ferne, wie der Junge seine Kerze zwischen zwei Steinen niederstellte und es sich bequem machte, ruhig und erleichtert, wie ein Mensch, der froh ist, zu Hause zu sein. Eine vollständige Einrichtung verwandelte diesen Winkel der Galerie in eine bequeme Behausung. In einem Winkel lag auf der Erde ein Haufen Heu, das ein weiches Lager bildete; aus alten Hölzern war eine Art Tisch zurechtgemacht; darauf lag von allem: Brot, Äpfel, mehrere angebrochene Schnapsflaschen. Es war eine wahre Räuberhöhle voll Beute, die seit Wochen aufgehäuft worden, darunter sogar unnütze Beute wie Seife und Stiefelwichse, Dinge, die nur um des Diebstahls willen gestohlen worden. Der Junge, allein inmitten all der Beute, genoß sie als selbstsüchtiger Räuber.
    »Du hältst wohl die Welt zum besten?« rief Etienne, nachdem er sich einen Augenblick verschnauft hatte. »Du kommst da herunter, um zu schwelgen, während wir oben Hungers sterben?«
    Johannes zitterte am ganzen Leibe und glaubte versinken zu müssen. Doch als er den jungen Mann

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