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Germinal

Germinal

Titel: Germinal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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schnauzte auch Lydia an und stellte die beiden nebeneinander hin wie Soldaten, die das Gewehr schultern. Dann stellte er sich hinter sie und schrie sie an:
    »Jetzt werdet ihr fünf Minuten so stehen bleiben, ohne euch umzudrehen ... Wenn ihr wagt, euch umzudrehen, werdet, ihr von wilden Tieren gefressen ... Nachher geht ihr geradeswegs nach Hause, und wenn Bebert unterwegs Lydia zu berühren wagt, werde ich es erfahren, und dann gibt es Hiebe.«
    Damit verschwand er im Dunkel mit einer solchen Leichtigkeit, daß man selbst das Geräusch seiner nackten Füße nicht hörte. Die beiden Kinder blieben fünf Minuten unbeweglich stehen, ohne sich umzudrehen, aus Furcht, von unbekannter Hand geohrfeigt zu werden. In ihrem gemeinsamen Schrecken war allmählich eine tiefe Zuneignag zwischen ihnen entstanden. Er dachte immer daran, sie kräftig in seine Arme zu schließen, wie er es von den anderen sah; sie hätte wohl eingewilligt, denn es hätte sie zu einer anderen gemacht, wenn sie so artig geherzt wäre. Aber keines von beiden wagte, dem Führer ungehorsam zu sein. Obgleich die Nacht stockfinster war, schritten sie nebeneinander hin, ohne sich zu umarmen, zärtlich und verzweifelt zugleich, in der Überzeugung, daß der Anführer sie von rückwärts ohrfeigen werde, wenn sie sich zu berühren wagten.
    Zur nämlichen Stunde war Etienne nach Réquillart gekommen. Am vorhergegangenen Tage hatte die Mouquette ihn flehentlich gebeten wiederzukommen, und er kam wieder, wenn er sich auch schämte, von einem Geschmack erfaßt, den er sich kaum zu gestehen wagte, für diese Dirne, die ihn anbetete wie einen Gott. Er kam übrigens in der Absicht, mit ihr zu brechen. Er wollte ihr erklären, daß sie wegen der Kameraden ihn nicht länger verfolgen solle. Man lebe nicht in so froher Zeit, und es sei unanständig, sich dem Vergnügen hinzugeben, wenn alle Welt Hungers sterbe. Weil er sie nicht zu Hause fand, beschloß er, sie zu erwarten, und spähte nach den vorüberkommenden Schatten.
    Unter dem eingestürzten Schachtturme gähnte halb verschüttet der alte Schacht. Ein aufrecht stehender Balken, der einen Rest des Daches trug, glich einem Galgen über diesem schwarzen Loche. Zwischen der geborstenen Vermauerung der Randsteine waren zwei Bäume hervorgebrochen, eine Esche und ein Platanenbaum, die aus dem Schlunde der Erde hervorgewachsen schienen. Es war ein verlassener, wüster Winkel, der Rand eines Abgrundes, von Gras und Gestrüpp überwuchert, mit alten Hölzern verlegt, mit Schlehen- und Weißdornsträuchern bestanden, wo im Frühjahr die Grasmücken ihre Nester bauten. Um die Kosten der Instandhaltung zu ersparen, trug sich die Gesellschaft seit zehn Jahren mit der Absicht, die aufgelassene Grube verschütten zu lassen; sie wartete nur noch, bis sie im Voreuxschachte einen Ventilator angebracht habe; denn das Gebläse der beiden miteinander verbundenen Schächte lag am Fuße des Réquillartwerkes, dessen ehemaliger Förderschacht als Kamin diente. Man hatte sich begnügt, die Verzimmerung mit Querbalken zu stützen, die den Eingang verrammelten; die oberen Gänge wurden sich selbst überlassen, und man überwachte nur den Tiefschacht, wo das Höllenfeuer, ein mächtiger Kohlenbrand, wütete mit einem so gewaltigen Zuge, daß man das Brausen in der benachbarten Grube hörte. Aus Vorsicht, damit man hinunter und herauf steigen könne, hatte man die Weisung erteilt, den Leiternschacht instandzuhalten; aber niemand kümmerte sich darum: die Leitern verfaulten in der Feuchtigkeit, ganze Absätze waren schon eingestürzt. Ein großer Brombeerstrauch verlegte oben den Zugang; und da die erste Leiter einige Sprossen verloren hatte, mußte man, um sie zu erreichen, sich an eine Wurzel des Schlehenbaumes klammern und auf gut Glück in den finstern Schlund hinabfallen lassen.
    Hinter einem Busch verborgen wartete Etienne geduldig, als er zwischen den Zweigen ein anhaltendes Rascheln vernahm. Er glaubte, es sei die scheue Flucht einer Blindschleiche. Doch zu seinem Erstaunen sah er ein Zündhölzchen aufflammen und maßlos war seine Verblüffung, als er Johannes erkannte, der eine Kerze anzündete und alsbald unter der Erde verschwand. Von einer lebhaften Neugierde ergriffen, näherte sich Etienne dem Loche: das Kind war verschwunden, ein schwacher Lichtschein kam vom zweiten Leiternabsatz herauf. Er zögerte einen Augenblick; dann ließ er sich hinabrollen, an den Wurzeln sich festhaltend; ihm war, als springe er die Tiefe von

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