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Germinal

Germinal

Titel: Germinal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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er sah bloß ein Fenster des ersten Stockwerkes sich erhellen; und da dieses Fenster sich öffnete und er einen schmalen Schatten erkannte, der sich hinausbeugte, trat er näher.
    Katharina flüsterte ganz leise:
    »Er ist noch nicht heimgekehrt. Ich lege mich schlafen... Ich bitte dich, geh'.«
    Etienne ging. Das Tauwetter nahm zu; ein Sturzregen ergoß sich von den Dächern; der Schweiß rann von den Mauern, von den Pfahlhecken, von allen den undeutlich sichtbaren, im Dunkel der Nacht verlornen Massen dieser Fabriksvorstadt. Zunächst lenkte er seine Schritte nach Réquillart, krank vor Ermüdung und Trauer, nur mehr von dem Bedürfnis erfüllt, unter der Erde zu verschwinden, dort zunichte zu werden. Dann erfaßte ihn wieder die Erinnerung an die Voreuxgrube; er dachte an die belgischen Arbeiter, die daselbst anfahren sollten, an die Kameraden aus dem Arbeitsdorfe, die gegen die Soldaten erbittert und entschlossen waren, keine Fremden in ihrer Grube zu dulden. Er ging von neuem längs des Kanals hin durch die Pfützen von geschmolzenem Schnee.
    Als er bei dem Hügel ankam, schien der Mond sehr hell. Er erhob die Augen und blickte zum Himmel empor, an dem die Wolken dahin jagten, getrieben von dem Sturme, der dort oben wütete und sie in weiße Fetzen zerriß, ganz dünn, von der unklaren Durchsichtigkeit trüben Wassers auf der Oberfläche des Mondes; sie folgten einander so schnell, daß das Gestirn bald verhüllt war, bald wieder in seiner vollen Klarheit hervortrat.
    Den Blick von diesem reinem Lichte erfüllt, senkte Etienne das Haupt, als ein Schauspiel auf dem Gipfel des Hügels seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Starr von Kälte ging jetzt die Schildwache auf und ab, fünfundzwanzig Schritte in der Richtung nach Marchiennes und dann fünfundzwanzig in der Richtung nach Montsou. Man sah das Bajonett blitzen oberhalb dieser Schattengestalt, die sich vom fahlen Nachthimmel scharf abzeichnete. Was den jungen Mann hauptsächlich interessierte, war, daß er hinter der Steinhütte, in welcher der alte Bonnemort in stürmischen Nächten Schutz zu suchen pflegte, einen beweglichen Schatten sah, etwas wie ein kriechendes Tier auf der Lauer; Etienne erkannte in dem Schatten sofort Johannes an seinem langen, dürren Rückgrat. Die Schildwache konnte ihn nicht bemerken. Die Höllenrange hatte gewiß einen schlimmen Streich vor; denn er kam aus dem Zorn gegen die Soldaten nicht heraus und fragte immer, wann man diese Mörder los sein werde, die man mit Flinten aussende, um die Menschen zu töten.
    Etienne schwankte einen Augenblick, ob er ihn anrufen solle, um ihn zu hindern, eine Dummheit zu begehen. Der Mond hatte sich verborgen; er sah den Jungen niederhocken, wie zum Sprung bereit; doch der Mond kam wieder zum Vorschein, und der Junge verblieb in seiner hockenden Stellung. Bei jeder Wendung kam die Schildwache bis zu der steinernen Hütte, machte dann kehrt und ging wieder ab. Plötzlich --- als wieder ein Gewölk den Mond verdunkelte --- sprang Johannes mit dem ungeheuren Satz einer Wildkatze dem Soldaten auf die Schultern, hakte sich dort fest und stieß ihm das offen gehaltene Messer in den Hals. Die härene Halsbinde leistete Widerstand, der Junge mußte mit beiden Händen auf das Heft drücken und mit dem ganzen Gewichte seines Körpers sich daran hängen. Oft hatte er Hühner geschlachtet, die er hinter den Pachthöfen abgefangen. Das Ganze spielte sich so schnell ab, daß man nur einen unterdrückten Schrei in der Stille der Nacht hörte, während das Gewehr klirrend zu Boden fiel. Schon leuchtete der Mond wieder ganz hell.
    Starr vor Entsetzen schaute Etienne noch immer. Der Anruf erstarb in der Tiefe seiner Brust. Der Hügel oben war leer; kein Schatten hob sich mehr von der scheuen Flucht der Wolken ab. Er eilte hinan und fand Johannes auf allen Vieren neben der Leiche, die mit ausgebreiteten Armen rücklings lag. In dem hellen Mondschein hoben sich das rote Beinkleid und die graue Kapuze von dem weißen Schnee scharf ab. Kein Tropfen Blut war geflossen; das Messer stak noch bis zum Heft im Halse.
    Mit einem wütenden Faustschlage streckte er den Jungen zu Boden, daß er neben die Leiche hinfiel.
    »Warum hast du das getan?« stammelte er außer sich.
    Johannes raffte sich auf, kroch auf den Händen fort mit einem katzenartigen Anschwellen seines mageren Rückens; seine breiten Ohren, seine grünen Augen, seine vorspringenden Kinnladen zitterten und flammten noch in der Erschütterung seiner

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