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Germinal

Germinal

Titel: Germinal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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Schaukeln des Leichnams und genötigt, alle hundert Meter die Last auf den Boden zu legen, um sich ein wenig zu verschnaufen. An der Ecke des Réquillartgäßchens hörten sie ein Geräusch, das ihnen das Blut in den Adern erstarren ließ; sie hatten knapp Zeit, sich hinter einer Mauer zu verbergen, um nicht einer Patrouille in die Hände zu fallen. Weiterhin wurden sie durch einen Mann überrascht; doch dieser war berauscht und entfernte sich unter Verwünschungen. Endlich kamen sie bei der alten Grube an, schweißbedeckt und dermaßen verstört, daß ihre Zähne klapperten.
    Etienne hatte richtig vermutet, daß es nicht leicht sein werde, den Leichnam durch den Schacht der Steigleitern hinunterzuschaffen. Es war eine furchtbar mühselige Arbeit. Vor allem mußte Johannes, der oben blieb, den Körper hinabgleiten lassen, während Etienne, an dem Gestrüpp hängend, neben ihm blieb, um ihm über die ersten zwei Absätze hinwegzuhelfen, wo einzelne Sprossen gebrochen waren. Dann mußte er bei jeder Leiter dasselbe Manöver von vorne beginnen, voraus hinabsteigen und den Körper in seinen Armen auffangen; das ging so über dreißig Leitern, zweihundertundzehn Meter tief, und auf jeder Leiter fühlte er immer wieder den Körper auf sich niederfallen, wobei das Gewehr seinen Rücken bearbeitete. Er hatte nicht zugegeben, daß der Knabe das Stückchen Kerze hole, mit dem er geizte. Wozu denn auch? Das Licht wäre ihnen nur hinderlich in diesem engen Schlund. Doch als sie atemlos im Auffahrtssaale angekommen waren, schickte er den Kleinen die Kerze holen. Er setzte sich nieder und erwartete ihn im Finstern neben der Leiche mit stürmisch pochendem Herzen.
    Als Johannes mit dem Lichte erschien, beriet sich Etienne mit ihm; denn der Knabe hatte diese alten Gänge durchforscht bis zu den geheimsten Spalten, wohin kein erwachsener Mann vordringen konnte. Sie setzten ihren Weg fort und schleppten den Toten durch eine Unzahl verfallener Galerien noch fast einen Kilometer weit. Endlich gelangten sie an eine Stelle, wo die Wölbung sich tief herabsenkte, so daß sie sich auf den Knien fortbewegten unter einem Rutschfelsen, der mit halb geborstenen Hölzern gestützt war. Es war eine Art langer Kiste, in die sie den kleinen Soldaten wie in einen Sarg betteten. Sie legten das Gewehr ihm zur Seite, dann stießen sie mit den Stiefelabsätzen gegen die Hölzer, daß sie vollends zerbrachen, auf die Gefahr hin, selbst die Knochen dabei zu lassen. Sogleich barst der Felsen; sie hatten knapp Zeit, auf allen Vieren hinwegzukriechen. Als Etienne sich umwandte, weil er sehen wollte, was geschah, dauerte die Senkung des Gewölbes fort; die ungeheure Last zermalmte allmählich den Leichnam; nichts blieb mehr übrig, nichts als die dichte Erdmasse.
    Als Johannes in seine Verbrecherhöhle zurückgekehrt war, streckte er sich auf seinem Heulager aus und brummte von Müdigkeit übermannt:
    »Die Rangen sollen warten; ich will ein Stündchen schlafen.«
    Etienne hatte die Kerze ausgelöscht, von der nur noch ein kleines Stückchen übriggeblieben war. Auch er war wie gebrochen, fühlte aber keinen Schlaf; schmerzliche Gedanken arbeiteten in seinem Schädel wie mit Hammerschlägen. Von allen blieb bald nur ein einziger übrig und quälte und ermüdete ihn mit einer Frage, auf die er keine Antwort wußte: warum hatte er den Chaval nicht niedergemacht, als er ihn unter seinem Messer hatte? Warum hatte dieser Knabe einen Soldaten umgebracht, der ihm völlig unbekannt war, dessen Namen er nicht einmal wußte? Dies warf alle seine revolutionären Glaubenssätze um: den Mut zu töten, das Recht zu töten. Sollte er feige sein? Der Knabe auf seinem Heulager hatte zu schnarchen begonnen; es war das Schnarchen eines Betrunkenen, als schlafe er seinen Mordrausch aus. Etienne fühlte sich gereizt und angewidert, weil er ihn da wußte, da hörte. Plötzlich schauerte er zusammen: der Hauch der Furcht war ihm über das Gesicht gefahren. Ein leichtes Streifen, ein Schluchzen schien ihm aus den Tiefen der Erde hervorzukommen. Das Bild des kleinen Soldaten, der mit seinem Gewehr da unter den Felsen lag, ließ sein Rückgrat zu Eis erstarren und seine Haare sich sträuben. Es war unsinnig: die ganze Grube füllte sich mit Stimmen; er mußte die Kerze wieder anzünden und beruhigte sich erst, als er bei dem fahlen Schein die leeren Galerien sah.
    Noch eine Viertelstunde saß er nachdenklich da, immer von dem nämlichen Kampfe durchrüttelt, die Augen starr auf die

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