Germinal
der offenen Hand entfiel. Beide hatten sich zu Boden geworfen; er war es, der das Messer ergriff und es jetzt gegen den andern zückte. Er kniete auf Chaval und drohte ihm das Messer in den Hals zu stoßen.
»Verdammter Verräter!« rief er. Du mußt hin werden!«
Eine scheußliche Stimme erhob sich in ihm und betäubte ihn. Es kam aus seinem Innern und pochte in seinem Schädel gleich Hammerschlägen; es war eine plötzliche Mordgier, das Bedürfnis, Blut zu trinken. Noch niemals hatte der Anfall ihn dermaßen gepackt. Und doch war er nicht berauscht. Er kämpfte gegen das Erbübel mit dem verzweifelten Beben eines Liebeswütigen, der am Rande der Notzucht mit sich selbst kämpft. Schließlich überwand er sich und warf das Messer hinter sich, wobei er mit rauher Stimme murmelte:
»Steh auf und geh!«
Jetzt eilte Rasseneur herbei, aber ohne sich zu nahe zwischen sie zu wagen, aus Furcht, einen argen Hieb wegzubekommen. Er wollte nicht, daß man sich in seinem Hause abschlachte, und geriet in einen solchen Zorn, daß seine Frau, die jetzt vor dem Schankpulte stand, ihm bemerkte, daß er immer zu früh schreie. Suwarin, dem das Messer beinahe in die Beine gefahren war, entschloß sich endlich, seine Zigarette anzubrennen. War's denn aus? fragte er sich. Katharina schaute noch immer; sie war ganz wirr vor den zwei Männern, die beide lebten.
»Geh!« wiederholte Etienne. »Geh, oder ich mache dir den Garaus!«
Chaval erhob sich und wischte mit dem Handrücken das Blut weg, das noch immer reichlich aus seiner Nase floß; mit seiner blutbeschmierten Kinnlade und dem blau geschlagenen Auge wankte er hinaus, wütend über seine Niederlage. Katharina folgte ihm mechanisch. Doch da richtete er sich auf, und sein Haß brach in einer Flut unflätiger Schimpfreden los.
»Nein, nein!« rief er. »Wenn du ihn haben willst, schlafe bei ihm, schmutziges Vieh! Setze keinen Fuß mehr in meine Stube, wenn deine Haut dir lieb ist!«
Er schlug heftig die Tür zu. Tiefe Stille herrschte in der warmen Stube, wo man nur das leise Schnurren der Kohle hörte. Auf dem Boden war nichts mehr zu sehen als der umgestürzte Sessel und die Blutstropfen im Sande.
Viertes Kapitel
Nachdem sie Rasseneurs Wirtshaus verlassen hatten, schritten Etienne und Katharina schweigend nebeneinander hin. Es begann das Tauwetter, ein kaltes, langsames Auftauen, das den Schnee beschmutzte, ohne ihn zu schmelzen. An dem fahlen Himmel barg sich der Vollmond kaum sichtbar hinter dichten Wolken, schwarzen Fetzen, die ein Sturm in unermeßlicher Höhe wütend dahinjagte. Auf der Erde wehte kein Hauch; man hörte nur den schmelzenden Schnee von den Dächern tropfen und zuweilen in größeren, weißen Massen mit weichem Fall herniederstürzen.
Verlegen angesichts dieses Weibes, das ihm aufgehalst worden, fand Etienne in seinem Unbehagen nichts zu sagen. Der Gedanke, sie mitzunehmen und bei sich im Réquillartschachte zu verbergen, schien ihm unsinnig. Er hatte sie nach dem Dorfe zu ihren Eltern führen wollen, aber sie hatte sich mit einer Miene des Entsetzens geweigert; nein, nein; alles eher, als ihnen zur Last fallen, nachdem sie sie so schmählich verlassen hatte. Keines von beiden sprach mehr; sie gingen aufs Geratewohl die Wege dahin, die das Tauwetter in Schmutzflüsse verwandelt hatte. Zuerst waren sie in der Richtung nach dem Voreux gegangen; dann wandten sie sich rechts und schritten zwischen dem Hügel und dem Kanal dahin.
»Du mußt doch irgendwo schlafen«, sagte er endlich. »Wenn ich nur eine Stube hätte, würde ich dich gern mitnehmen...«
Doch eine Regung seltsamer Scheu unterbrach ihn. Er erinnerte sich seiner und ihrer Vergangenheit, ihrer heftigen Begierden von ehemals, und der Scham und der Scheu, die sie hinderten, sich zu verbinden. Trug er denn noch immer Verlangen nach ihr, fragte er sich, daß er sich so verlegen, sein Herz von einem neuen Verlangen erwärmt fühlte? Die Erinnerung an die Maulschellen, die sie in Gaston-Marie ihm gegeben hatte, erregte ihn jetzt, anstatt ihn zu erzürnen. Er war überrascht von all diesen Empfindungen; der Gedanke, sie nach seinem Versteck in der Réquillartgrube mitzunehmen, schien ihm jetzt ganz natürlich und leicht durchführbar.
»Entschließe dich, wohin soll ich dich führen?... Mißachtest du mich denn, weil du dich weigerst, dich mit mir zu verbinden?«
Sie folgte ihm langsam und schwer, weil sie mit ihren Holzschuhen in den Fahrgeleisen immer ausrutschte. Ohne den Kopf zu heben,
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