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Germinal

Germinal

Titel: Germinal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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brennende Kerze gerichtet. Doch endlich gab es ein leises Knistern, der Docht erlosch und alles versank wieder in Finsternis. Er fröstelte und hätte Johannes ohrfeigen mögen, um ihn zu hindern, daß er so stark schnarche. Die Nähe des Knaben ward ihm so unerträglich, daß er von einem Bedürfnisse nach frischer Luft gequält, durch die Galerien und durch den Schacht eilte, als jage ein Schatten hinter ihm her.
    Oben inmitten der Trümmer der Réquillartgrube konnte Etienne endlich mit voller Lunge Atem schöpfen. Da er nicht zu töten wagte, war es an ihm zu sterben; dieser Todesgedanke, der ihn schon einmal gestreift, tauchte jetzt wieder auf und setzte sich wie eine letzte Hoffnung in seinem Schädel fest. Wenn er einen tapfern Tod fände, für die Revolution fiele, dann wäre alles aus, seine Rechnung abgeschlossen, -- gleichviel ob ihm Gutes oder Schlimmes beschieden war -- und er würde nimmer zu denken haben. Wenn seine Kameraden die belgischen Arbeiter angreifen sollten, wollte er in der ersten Reihe stehen und werde wohl das Glück haben, eine tödliche Kugel wegzubekommen. Festen Schrittes kehrte er zur Voreuxgrube zurück, um dort Umschau zu halten. Es schlug zwei Uhr, und ein großer Lärm kam aus dem Aufseherzimmer, wo der Militärposten kampierte. Das Verschwinden der Schildwache hatte den Posten in die größte Bestürzung versetzt; man hatte den Kapitän geweckt, und nach einer sorgfältigen örtlichen Untersuchung glaubte man an eine Fahnenflucht. Etienne stand im Dunkel auf der Lauer und erinnerte sich, von dem kleinen Soldaten gehört zu haben, daß der Kapitän ein Republikaner sei. Wer weiß, ob man ihn nicht bestimmen könnte, zum Volke überzugehen? Die Truppe könnte die Gewehre umkehren, und dies wäre das Signal zur Niedermetzelung der Spießbürger. Ein neuer Traum riß ihn fort; er dachte nicht mehr ans Sterben; er blieb stundenlang da im Schmutz, den Schauer des Tauwetters in den Schultern fühlend, fieberhaft erregt durch die Hoffnung auf einen noch möglichen Sieg.
    Bis fünf Uhr spähte er nach den belgischen Arbeitern. Dann merkte er, daß die Gesellschaft die List gebraucht hatte, sie in der Voreuxgrube übernachten zu lassen. Jetzt begann die Anfahrt. Die wenigen Streikenden aus dem Dorfe der Zweihundertundvierzig, die man als Kundschafter aufgestellt hatte, zögerten, die Kameraden zu benachrichtigen. Er selbst benachrichtigte sie von dem feinen Streich, und sie eilten herbei, während er hinter dem Hügel auf dem Schleppwege wartete. Es schlug sechs Uhr; der fahle Morgenhimmel rötete sich, als der Abbé Ranvier, die Sutane über seine mageren Beine emporhebend, auf einem Seitenpfade erschien. Jeden Montag las er die Frühmesse in einer Klosterkapelle, die jenseits der Kohlengrube lag.
    »Guten Morgen, mein Freund!« rief er mit kräftiger Stimme, nachdem er mit seinen Flammenaugen den jungen Mann betrachtet hatte.
    Aber Etienne antwortete nicht. In der Ferne hatte er zwischen den Gerüsten der Voreuxgrube eine Frauensperson vorüberkommen sehen und eilte, von Unruhe ergriffen, hinzu, weil er Katharina erkannt zu haben glaubte.
    Seit Mitternacht trieb sich Katharina auf den vom Tauwetter aufgelösten Straßen herum. Als Chaval bei seiner Heimkehr sie im Bette gefunden, hatte er mit einem Backenstreiche sie auf die Beine gebracht. Er rief ihr zu, sie solle sogleich durch die Tür flüchten, wenn sie nicht zum Fenster hinausfliegen wolle; weinend, nur halb bekleidet, mit Fußtritten verfolgt, hatte sie sich entfernen müssen. Völlig betäubt von dieser rohen Trennung hatte sie sich auf einen Eckstein gesetzt und nach dem Hause hingesehen in der Erwartung, daß er sie zurückrufen werde; denn sie hielt alldies für unmöglich und glaubte fest, er spähe nach ihr und werde ihr zurufen, sie möge wieder heraufkommen, wenn er sie so sehe, vom Nachtfrost geschüttelt, einsam, von aller Welt verlassen.
    Nach Verlauf von zwei Stunden faßte sie einen Entschluß, weil sie schier erfror in der Unbeweglichkeit eines auf die Straße gejagten Hundes. Sie verließ Montsou, kehrte wieder um und kämpfte mit sich selbst, ob sie von der Straße aus ihrem Liebhaber zurufen oder an die Tür klopfen solle. Aber sie fand nicht den Mut dazu. Endlich ging sie auf der geraden Heerstraße fort mit dem Gedanken, zu ihren Eltern zurückzukehren. Doch als sie im Dorfe ankam, ward sie von einer solchen Scham ergriffen, daß sie längs der Vorgärten dahinlief aus Furcht, von jemandem erkannt zu werden,

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