Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006
die holde Flamme drinnen,
Die mich tagelang erhitzte.
Seht: Fast bin ich schon bei Sinnen.
Abendgang 17 Uhr
Ölbäume, im Stich gelassen,
Trockenmauern, eingefallen,
Reben, haltlos ausgewuchert:
Schau dich um. Du siehst in allen
Zügen der schon leicht entgleisten,
Einst so konturierten Landschaft
Folgen mangelnder Beherrschung.
Siehst sie und verspürst Verwandtschaft.
Beispiel Bella zum Letzten
Wie die Bella, zartestmäulig,
Aus zerplatztem Stachelpanzer
Die Marone an das Licht holt,
Also auch der Dichter: Ganzer
Umsicht voll, voll ganzen Mutes
Geh' er jeglichem Erleben
Auf den Grund. Im Kern ist Wahrheit.
Und den gilt's hervorzuheben.
Abendfütterung 18 Uhr
Gibt die Holde ihrem Hunde,
Gibt sie zugleich allen Katzen,
Denn sie huldigt stets dem Grundsatz:
Volle Pfote – volle Tatzen.
Dichter sieht es mit Bedenken:
Wie mag solch Verschwenden enden?
Noch war er nicht an der Reihe.
Noch steht er mit leeren Händen.
Abendstimmung 19 Uhr
Grauer Dunst verschluckt die Gegend.
Morgen, lese ich, soll's regnen,
Doch der Regen und der Dichter
Werden sich nicht mehr begegnen.
Mit dem Licht geht die Erleuchtung.
Ohne Flamme keine Feier,
Kein Entflammter, keine Holde:
Stumm entsinkt der Hand die Leier.
20 Uhr. Der Kostümverleih mahnt
»Bist im Weimaraner Schlafrock
Lang genug herumstolzieret,
Würstchen, leg ihn ab, ich seh doch,
Wie's dich trotz der Maske frieret.
Spür's! Nicht wärmt mehr das Geschlotter!
Nun versprechen beßre Hitze,
Gutes Essen, holde Eintracht
Alter Wein und neue Witze.«
Berliner Zehner
Hauptstadtgedichte
2001
Berlin zum Dritten
Oktober 1999
Man steigt nicht zweimal
in dieselbe Stadt.
Man ist ja auch nicht der,
der man mal war.
Man war mal jung,
da war die Stadt schon alt.
Jetzt ist man älter,
und die Stadt verjüngt sich.
Man baut schon ab,
da baut die Stadt sich auf:
- Ick bin Balin.
Wie war Ihr werter Name?
- Was soll die Frage?
Kennst du mich nicht mehr?
Ich kam zu dir,
bevor die Mauer war.
Ich kam zurück,
nachdem die Mauer stand.
Ich ging von dir,
da schienst du übern Berg.
Ich komm zu dir, gebeugt,
da bist du obenauf:
Du bist Berlin?
Mal sehn, wie du dich machst.
Couplet vom Hauptstadtroman
November 1999
»Auf den großen Hauptstadtroman freilich
werden wir wohl noch weiter warten müssen.«
Aus einer Buchkritik
Welch Novemberbeginn! Das gibt es doch nicht:
Alle Bäume entflammt. Alle Bauten im Licht.
Die Sonne zieht Tag für Tag ihre Bahn -
was sie nicht bescheint, ist ein Hauptstadtroman.
Vorm Reichstag der Alte. Er lächelt schmal.
»Warum so bekümmert?« Er zeigt aufs Portal:
»Es drängt sich die Menge im Kuppelwahn -
doch so 'n Halbei ersetzt keinen Hauptstadtroman!«
Am Alex die Gören. Zwei kurz, einer lang.
Die Blicke so wund und die Schnuten so bang.
»He Steppkes, was hat man euch angetan?«
»Mensch, keener schreibt uns den Hauptstadtroman!«
Der Mensch muß was essen. Der Pizzaduft lockt.
Was wirken die Esser so klamm und verstockt?
»Tutto bene, Signor? Etwas Parmesan?«
»Uns fehlt nichts«, schallt's im Chor, »außerm Hauptstadtroman.«
Am Grunewaldsee. Eine Frau und ein Hund.
Ich lobe das Tier. Wie schmerzlich ihr Mund:
»Meine Jule schlägt an bei Ente und Schwan -
was sie niemals verbellt, ist ein Hauptstadtroman.«
's ist 9. November. 's ist zehn Jahre her,
daß die Mauer fiel. Doch die Herzen sind leer:
»Wat hat sich denn hier in zehn Jahrn jroß jetan -
ich meine in Sachen Hauptstadtroman?!«
Berliner! Es steht ein Problem im Raum.
Die Hauptstadt ist da. Der Roman bleibt ein Traum,
wenn der Zufall Regie führt und nicht ein Plan:
Wer schreibt ihn denn nun, diesen Hauptstadtroman?
He, Hauptstadtzahnarzt! Ist dir denn bewußt,
was du in der Hauptstadtzahnarztpraxis tust?
Was suchst du im Mund? Was bohrst du im Zahn?
Du findest ihn dort nicht, den Hauptstadtroman!
Ach Hauptstadtbaulöwe, laß doch das Baun!
An Neubauten gibt es genügend zu schaun!
Was der Stadt jetzt fehlt, ist kein weiterer Kran -
was die Hauptstadt braucht, ist ein Hauptstadtroman!
Welch Novemberende! Leis rieselt der Schnee!
Hauptstadtberliner! Ich versteh euer Weh,
doch den Hauptstadtroman, den schreib ich euch nicht:
Wenn es hoch kommt, dann pack ich das Hauptstadtgedicht.
Berliner Abgesang
Dezmber 1999
Ganz kurz nur seufzt
des Menschen Mund.
Schon länger stöhnt
so ein Jahrhund.
Und nun erst gar
ein ganz Jahrtaus:
Dem geht der Wehlaut
gar nicht aus.
Ganz knallig
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