Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006
einen möglichen Weichensteller in Richtung Steigerung genannt habe, Gottfried Benn und sein mir seit langem bekanntes und liebes Gedicht »Was schlimm ist«:
Wenn man kein Englisch kann,
von einem guten Kriminalroman zu hören,
der nicht ins Deutsche übersetzt ist (…)
Sehr schlimm: eingeladen sein,
wenn zu Hause die Räume stiller,
der Café besser
und keine Unterhaltung nötig ist.
Am schlimmsten:
nicht im Sommer sterben,
wenn alles hell ist
und die Erde für den Spaten leicht.
Was mich dazu bewog, »Nachdem er durch Metzingen gegangen war« zu schreiben, habe ich 1994für den von Almut Gehebe-Gernhardt herausgegebenen ›Architektur-Raben‹ rekapituliert:
Winterreise
In der ersten Dezemberwoche des Jahres 1984führte mich eine Lesereise durch schwäbische Volkshochschulen und in mir bis dahin unbekannte Orte, schwäbische wie fränkische. Am letzten Tag dieser Fahrt entstand ein Gedicht, das so etwas wie die poetische Summe meiner Stadtrundgänge darstellt, obgleich doch der unmittelbare Anlaß der prosaischste war, der sich denken läßt. Zum zehnten Jahrestag dieses Vorgangs mag es erlaubt sein, eine Auswahl jener Materialien und Notizen auszubreiten, welche schließlich zu acht Zeilen gerinnen sollten: Das Gedicht verdichtet.
3.12. Schwäbisch Gmünd. Die romanische Kirche, die ich anfangs für unecht hielt, derart putzig, dutzig wirkte sie. War aber echt, und ich fragte mich wieder mal, ob die Bildhauer der Romanik nicht ungeheuer fröhliche Burschen gewesen sind, die ihre Pflichtaufgaben zwar mit allem Ernst, die Kleinigkeiten und das Drumherum aber mit viel Spaß und auch zum Spaß gemacht haben. Immer wieder kauern Ungeheuer auf den Fensterbänken, deutlich kann man zwei Hände unterscheiden, eine, deren Muster formelhaft und reliefartig geraten sind, und eine, die sie vollplastisch, schrecklich schreckerregend und äußerst lebensecht aus dem Stein geholt hat. Gut vorstellbar, wie dieser Steinmetz da an seinen Bestien gemeißelt hat, wie das vorbeikommende Volk ihn fragte: Was wird denn des no wieder? wie er antwortete: Abwarte! und wie er das Untier dann auch noch die Zunge rausstrecken ließ, und wie die Marktweiber kreischten.
4.12. Fahrt über Aalen (ä bäh!) nach Dinkelsbühl. Irgendwie nicht ganz wahr und doch sehr zeitgenössisch. Das intakte Ensemble gediegener mittelalterlicher Häuser ist in den letzten Jahren mit wechselnden Creme-Farben gestrichen worden, das Ergebnis: eine herbe Bonbonniere. Kopfsteinpflaster, kein modernes Werbeschild, alle Ladenbezeichnungen mit gotischen Lettern und in einheitlicher Manier auf die Wände gemalt, was bei »Records – Video« einen besonders ansprechenden Effekt machte. Ein sehr leerer Ort, meine Schritte hallten, als ich auf die große Kirche im Zentrum zuging und die Übersichtlichkeit der mittelalterlichen Stadt bewunderte: Die Großen hatten große Häuser, die sie mitten in die Stadt und rund um die Kirche stellten, die Kleineren hatten kleinere, und die Kleinen hatten ganz kleine, die sie längs der Stadtmauer in den verbleibenden Raum zwängen mußten.
Dann Crailsheim, drei Kreuze, danach das überraschend schöne Schwäbisch Hall. Schön, weil die Stadt einmal reich gewesen ist und ihre Lage genutzt hat: Da ist der Fluß, der sich verzweigt und den Ort gliedert, da ist die Hanglage, die der Stadt etwas geradezu Italienisches verleiht, und da ist die große Kirche, die diesen Hang durch eine wunderschöne Treppe thematisiert. Bereits als ich den Umriß der Stadt das erstemal gesehen hatte, flüchtig, von der Umgehungsstraße Richtung Schwäbisch Gmünd aus, war ich von der Gewißheit erfüllt gewesen, da erwarte mich etwas Schönes. Doch woher rührte dieses Gefühl? War es erlernt? Eingeboren?
Heute morgen, beim Frühstück im Hotel Hohenlohe, stellte sich angesichts der breitgelagerten Stadt wieder tiefe Zufriedenheit ein über die sinnfälligen Formen der Gebäude und das schöne Miteinander von Fluß und Architektur; als ich genauer hinschaute, war einer dieser befriedigenden Gebäudekomplexe, direkt am rauschenden Kocher gelegen, die Strafvollzugsanstalt.
6.12. Letzte Station: Metzingen, ein trauriges Kapitel. Wenn da außer einigen Kelterhäusern je etwas Erfreuliches gewesen sein sollte, dann haben interessierte Kreise das mit Erfolg plattgemacht. Die Innenstadt ist ein Konsum-, Schaff- und Raff-Zentrum der schlimmsten, weil vollkommen auf blanke Notwendigkeit beschränkten Sorte: Warum sich verrückt machen, die
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