Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006
wurde mir immaterieller Lohn durch die ›Bild‹-Lektüre zuteil. In einem »Erklärung« überschriebenen Text, direkt neben »Danas Kulturstück« plaziert, stieß ich auf ein hochdramatisches Dichtwerk, reimlos zwar, doch von großer Verdichtung und Suggestivität.
»Die Ausgabe der ›BILD‹-Zeitung vom 14. Februar 1994 enthielt auf der letzten Seite einen Artikel mit der Überschrift ›Mathieu Carrière: Ratten sind mir lieber als Menschen‹, in dem folgende Behauptungen aufgestellt wurden, bzw. Mathieu Carrière in folgender Weise zitiert wurde.« Derart prosaisch beginnt, was dann überaus poetisch fortfährt – (ich habe den Text nicht angetastet, lediglich den Zeilenfall ein wenig den Regeln der Kunst unterworfen)–:
Mathieu Carrière läßt sich
scheiden. Er raucht
80 Zigaretten täglich, hat meist
zwei Stunden Schlaf
pro Nacht.
Vor drei Jahren hatte
Mathieu Carrière eine Schlange
als Haustier. Heute lebt er
allein. Nur mit drei
Ratten.
Diese Behauptungen
erhalten wir nicht
aufrecht.
Das Stadtschreibergedicht – 1991 wurde mir der Stadtschreiberpreis von Bergen zugesprochen: Heinz Czechowski, mein Vorgänger, überreichte mir im Rahmen einer Feierstunde im Festzelt den Schlüssel zum Stadtschreiberhaus. 1992 war es an mir, diesen Akt zu vollziehen; der Empfänger des Schlüssels war mein Nachfolger Ralf Rothmann. Da die Bergener Bürger vom Dichter zum Abschied zu Recht ein Dichterwort erwarteten, revanchierte ich mich bei ihnen, den Stiftern und Financiers des Preises, mit einer Ballade, die wie jede rechte Ballade einen historisch faßbaren Kern hat: Der »Berger Fratzenstein« ist noch heute im Heimatmuseum, früher Rathaus des einst selbständigen Städtchens, zu sehen, eine Replik wurde in die Außenwand des Gebäudes eingelassen.
Die »Unterpforte« ist verschwunden. Sie wies Richtung Frankfurt, so, wie sich der Fratzenstein gegen jenes fragwürdige Volk richtete, das Messen und Kaiserkrönungen in die benachbarte Großstadt gelockt hatten, und das nun spielend oder gaukelnd auch im Städtchen Bergen sein Glück versuchen wollte: Far, du Gauch!
Im zweiten Teil der Ballade habe ich den Versuch unternommen, sämtliche – mit Rothmann – neunzehn Stadtschreiber in einem halbwegs sinnvollen Zusammenhang unterzubringen. Natürlich mußte ich auf jedwede Chronologie verzichten, sie sei hier zum besseren Verständnis mitgeteilt. Erster Stadtschreiber war im Jahre 1974/75 Wolfgang Koeppen. Ihm folgten: Karl Krolow, Peter Rühmkorf, Peter Härtling, Nikolas Born, Helga M. Novak, Dieter Kühn, Peter Bichsel, Jurek Becker, Günter Kunert, Friederike Roth, Ludwig Fels, Gerhard Köpf, Ulla Hahn, Eva Demski, Katja Lange Müller, Heinz Czechowski und der Auflistende. Der zur Zeit der Abfassung der Ballade noch geheimnisumwobene zwanzigste Stadtschreiber von Bergen wurde übrigens der Schweizer Paul Nizon.
Am 24. 7. 1998 erreichte mich ein Fax, das mit folgender Bitte abschloß: »Einziges Problem erscheint mir, daß Ihre Ballade mit Rothmann aufhört. Deshalb bitte ich Sie auch, die folgenden fünf Namen einzubeziehen: Paul Nizon, Josef Winkler, Herta Müller, Wilhelm Genazino, Jörg Steiner. Im August kommt noch: Arnold Stadler.« Der nämlich sollte der 25. Stadtschreiber von Bergen-Enkheim werden; geplant war aus diesem Anlaß eine Ausstellung im Heimatmuseum des Orts: »Ihre Ballade wird – mit Ihrer Erlaubnis – auf zwei Fahnen außen am Heimatmuseum hängen.« Ich beeilte mich, die Ballade zu aktualisieren; das Ergebnis der Ergänzung liest sich wie folgt:
Der mahnte: »Ihr lieben Gäuche,
macht bitte nizon Krach,
sonst wird in ihrem Winkler
noch die Frau Müller wach
und flüchtet gen Azin0
wohl über Steiner und Stock
und säuft dort die ganze Stad ler –:
Erspart der Welt diesen Schock!«
Mitternacht! Alle Gäuche
halten zum Glockenschlag ein.
Doch bänglich fragen die Bürger:
»Wer mag wohl der nächste sein?«
»Gedichte sind gemalte Fensterscheiben«, sagt Goethe und spricht vom schönen Schein, den sie verbreiten. Mir kommen sie eher wie blinkende Köder vor, die der Dichter ins Wasser der Zeit wirft. Meist ohne unmittelbaren Erfolg: Der stellt sich oft erst nach Jahren ein, wenn denn überhaupt eine Leserin oder ein Leser am Haken einer Zeile, einer Strophe, gar des ganzen Gedichts hängenbleibt. Oder sollte es heißen: Wenn denn bei der Leserin oder dem Leser eine Zeile, eine Strophe, ein ganzes Gedicht gar hängenbleiben? Gleichviel: Selbst
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