Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006
ist ein schönes Beispiel für die ebenso alte wie hartnäckige Behauptung, daß die erste Zeile eines Gedichts ein Geschenk der Götter sei, der Rest aber vom Dichter erarbeitet werden müsse.
Ich bekam sogar gleich einen ganzen Vers geschenkt, den ersten: Er überkam mich, als ich des Morgens Frühsport machte, allein auf einer harten Matte; weit und breit kein Champagner, kein süßes Mädel und schon gar kein Grund, irgend jemandem zuzuwinken. Die Zeilen gingen mir beim Liegestütz durch den Kopf, ich mußte lachen und schrieb sie sogleich in ein Notizheft, das ich immer bei mir trug oder nahe genug aufbewahrte, um unverzüglich etwas notieren zu können. In diesen römischen Tagen nämlich dichtete ich ziemlich viel – am Ende waren es sechzig Gedichte in drei Monaten, also eine durchschnittliche Herstellungszeit von I 1 / 2 Tagen pro Gedicht–, und außerdem hatte mich die Erfahrung gelehrt, daß der Mensch nichts rascher vergißt als seine Träume und ersten Gedichtzeilen.
Als ich sie niederschrieb, wußte ich lediglich, daß nun Arbeit auf mich wartete. Was ich noch nicht so recht wußte, war, in welche Richtung sich das Gedicht weiterentwickeln würde. Wenn ich es heute vor Publikum vortrage, gibt es am Ende regelmäßig Gelächter – daraus schließe ich, daß das Gedicht mit einer Pointe endet. Damals ahnte ich dieses mögliche Ende nur sehr nebelhaft, ich nahm nach dem ersten Vers lediglich Witterung auf und setzte meinen Kunstverstand und meinen Pointeninstinkt in Bewegung.
Wenn ich heute in das Notizheft schaue, stelle ich fest, daß ich mich an diesem Tag schön zielstrebig weiterbewegt habe: Da gibt es kaum Korrekturen und schon gar keine Abschweifungen.
Ich lief tagsüber durch die Stadt wie ein gewöhnlicher Tourist; wie ein richtiger Dichter aber bewegte ich die ersten Worte so lange in meinem Kopf, bis ich irgendwo auf hellichter Straße einen zweiten Vers notieren konnte, sodann den dritten und schließlich, abends auf einer Tiberbrücke, den vierten.
Der wichtigste Schritt war zweifellos der vom ersten zum zweiten Vers. Mit der Steigerung »Schön, schöner« waren die Weichen gestellt zu: »noch schöner« und »am schönsten«. Eine keineswegs zwangsläufige Weichenstellung! Das Gedicht hätte ja auch anders, flusiger weitergehen können, zum Beispiel mit einer Reihe von Versen zu weiteren positiven Eigenschaftswörtern wie klug oder gut oder stark–: »Klug ist es, wertvolle Bücher zu lesen/und nicht dauernd auf dem Moped rumzupesen – das ist klug.« Noch klüger freilich war es von mir, solche Möglichkeiten gar nicht erst zu erwägen.
Es gibt Gelächter am Ende des Gedichts, sagte ich, den ersten drei Versen aber lauscht das Publikum in der Regel mit einer gewissen Gespanntheit. Völlig zu Recht – die gleiche Spannung hatte ja auch mich zum Weiterschreiben veranlaßt: Worauf läuft das alles hinaus? Freilich: Deswegen allein hätte ich wahrscheinlich nicht so hartnäckig weitergesucht. Was mich bereits bei dem ersten Vers hatte lachen lassen, versuchte ich fortzuführen und zu steigern: Die Mischung von Hoch- und Niedersprache und die Vermischung von hehren Inhalten und schnödem Jargon.
Wer weltliche Werte gefährlich und geistige Güter erstrebenswert findet, wird im wirklichen Leben nicht Worte in den Mund nehmen wie »abfahren« oder »eine Ahnung zukommen lassen« – tut er es dennoch, gerät der Anlaß dieses hohen Sprechens ziemlich ins Wackeln. Wo was wackelt, kann natürlich auch was fallen, und wo was fällt, gibt es häufig was zu lachen. Fallhöhe lautet denn auch ein Begriff aus der Komiktheorie, und Witzforschungen legen nahe, daß ein Witz um so stärker wirkt, je tiefer da jemand plumpst.
Und fallen tut er ja auch, der Sprecher, der da in meinem Gedicht das große Wort führt, die hohen Werte bemüht und am Ende unverfroren zu erkennen gibt, daß es ihm im Grunde seines schwarzen Herzens lediglich darum geht, seine finsteren Ziele derart zu bemänteln, daß er beides haben kann: ein gutes Gewissen und das süße Leben.
So etwas aber nennt man Heuchelei, und die ist vorzugsweise da zu finden, wo die Zeigefinger gereckt werden. Sei es von Berufs wegen, von Politikern, Geistlichen, Vorgesetzten oder Lehrern; oder weil sich da einer berufen fühlt: zum Guru, zum Führer, zum Propheten oder zum weisen Erzieher der Menschen und uneigennützigen Freund der Jugend.
PS Beim Wiederlesen dieses Berichts verwunderte mich ein wenig, weshalb ich nicht zumindest
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