Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006
schreib ich nichts, lernt erst mal lesen.
Nichts geht mehr, dachte ich, doch ich hatte meine Rechnung ohne den deutschen Studienrat und – vor allem – ohne den deutschen Schüler gemacht: Andreas Weber hieß der wackere Schulmann, der seine Klasse in den frühen 90ern zum Weiterdichten anhielt und die Ergebnisse 1994 in der Nummer 125 der Zeitschrift »Praxis Deutsch« festhielt, darunter auch den folgenden Zweizeiler eines leider nicht genannten Schülers:
Paulus schrieb an die Navajo:
Man ißt Oblate nicht mit Majo.
Ja – da hatte ein junger Mensch unbekümmert die von mir bereits fortgeworfene und erloschen geglaubte Fackel aufgenommen und weitergetragen, und solange das noch geschieht, wird in der Nacht heutiger Unkultur weiterhin das Flämmchen der Hoffnung auf bessere Zeiten für Dichter und Leser leuchten.
»Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs« – Dieses Gedicht wurde erstmals 1979 im ›ZEITmagazin‹ veröffentlicht. Ermöglicht wurde sein Abdruck durch die Gunst der Umstände – der Chefredakteur war im Urlaub und die Redakteurin Anna Mikula beherzt genug, den Krach zu riskieren; möglicherweise war aber auch eine List der Geistesgeschichte mit im Spiel, vielleicht diente mein Gedicht lediglich als Köder, um Walter Hedinger vom Hamburger Hafen aus der Reserve zu locken.
Der nämlich war einer der über zwanzig Empörten, die sich schriftlich bei der ›Zeit‹ über mein Sonett beschwerten, und bereits seine erste Beschwerde ragte in Ton und Inhalt über das eifernde Normalmaß hinaus:
»Goethe ist tot! Schiller ist tot! Klopstock ist tot! Robert Gernhardt lebt! Wozu?
Was soll das ›Gedicht‹? Wem dient dies? Glauben Sie mir, ich bin nicht prüde, ich bin mein Leben lang im Hafen tätig gewesen. Aber von meinen Hafenarbeitern habe ich so eine Sammlung von zotigen Worten noch nicht gehört.«
Die Vielzahl der Leserbeschwerden bewog mich, einen klärenden Brief aufzusetzen – nicht Verscheißerung des Sonetts, Verarschung der kurrenten Szenesprache sei das Anliegen meines Sonetts gewesen–, und selbstredend gehörte Walter Hedinger zu den Adressaten. Er war der einzige, der ein zweites Mal zur Feder griff und dabei jene Erkenntnis zu Papier brachte, die genügen würde, noch ganz andere Sonette zu rechtfertigen. Er könne meine Entschuldigung nicht gelten lassen, schreibt er, denn: »Der Leser der ›Zeit‹ ist machtlos dem Sonett ausgeliefert und merkt erst beim Lesen, was er liest« – womit Walter Hedinger an das Geheimnis aller Literatur gerührt haben dürfte: Solange das so bleibt, sollte einem um die Zukunft dieser Kunst nicht bange sein.
Die vollständige Geschichte des Entrüstungssturms von 1979 ist im Nachwort meiner Satiresammlung Letzte Ölung nachzulesen. Die weitere Geschichte des Sonetts aber buchstabiert noch einmal in nuce die vertrauten Legenden der Schlüsselwerke der Modernen Kunst nach: Was einst den größten Skandal erregte (Strawinskis Sacre du Printemps, Picassos Demoiselles d'Avignon, Benns Morgue ), genießt Jahrzehnte später die höchsten Weihen. Ohne den Vergleich allzusehr strapazieren zu wollen, sei doch festgehalten, daß keines meiner Gedichte bisher derart häufig in Anthologien aufgenommen worden ist wie die »Materialien«: 1991 in Das große Gedichtbuch von 1500 bis zur Gegenwart , hrsg. von Karl Otto Conrady, Artemis Verlag, 1992 in Deutsche Dichtung unseres Jahrhunderts, hrsg. von Rudolf Helmut Reschke, Bertelsmann Buchclub, im gleichen Jahr in 100 Jahre Lyrik! Deutsche Gedichte aus zehn Jahrzehnten, hrsg. von Axel Marquardt, Haffmans Verlag und 1995 in Das bleibt, Deutsche Gedichte 1945–1995, hrsg. von Jörg Drews, Reclam Leipzig.
»Media in Vita« und »Geschichte einer Beziehung« waren ursprünglich Bildgedichte.
Das Gedicht »Vater, mein Vater!« ist auch in der 1984 bei Haffmans erschienenen Satirensammlung Letzte Ölung zu finden.
Vier Gedichte aus ich ich ich - In dem Roman Ich Ich Ich versuchte ich meinen Dank an all jene Dichter, die mein Italien-Bild geprägt und meine Italiensehnsucht befördert hatten, dadurch abzutragen, daß ich ihre Erzählungen und Tonfälle aufgriff und sie dem Buch einverleibte. Ich Ich Ich zerfällt in fünf Kapitel, »Ich, Du, Er, Sie, Es«, und viele Stimmen, darunter auch die von Gottfried Benn und Giorgio Vasari. Für das zweite Kapitel nutzte ich die Form der Dante-Terzinen, und die in »Er« eingebettete Episode »Er kommt einer Einladung
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