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Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006

Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006

Titel: Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Gernhardt
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nach« erzählte ich in der Weise des Eichendorffschen Taugenichts . Da durften Liedeinlagen nicht fehlen, und folglich singen der einladende ältere Künstler, der eingeladene junge Künstler sowie der rätselhafte Doppelgänger des Erzählers in der italienischen Sommernacht mehr oder weniger wohltönend von Lust und Leid des Maler- und Künstlerseins.

    Daß Gedichte zur Nachahmung aufreizen können, belegt bereits das zweite Gedicht dieser Sammlung. Jedoch ist es eine Sache, im Trakl-Ton zu dichten, eine andere, ein Gedicht weiterzudichten, aus keinem anderen Grunde als dem, daß ein einziger Poet allein das dem Poem innewohnende Potential – hellsichtige Unaufmerksamkeit ließ mich im ersten Anlauf Poetential schreiben – nie wird ausschöpfen können.
    Daß dies auf Nacht der deutschen Dichter zutraf, wußte ich bereits beim Verfassen der Vorlage, 1986, als mir bei einem Rom-Aufenthalt ohne ersichtlichen Anlaß das »Thema« durch den Kopf gegangen war.
    Die »Variationen« hatte ich auf – damals noch – lebende Dichterinnen und Dichter beschränkt; als ich das Gedicht in der Folgezeit vortrug und wechselnde Zuhörerschaften zu weiteren Strophen aufforderte, weitete sich auch der Kreis der bedachten und bedichteten Dichter.
    Eine Auswahl mir zugänglich gemachter »Variationen« mag belegen, was alles in dem »Thema« steckt.
    Wer bietet mehr?
    Stille Nacht, feurige Nacht,
    alles zischt.
    Christian Kracht.
    Stille Nacht, erhebende Nacht,
    alles groß,
    Georg Klein.
    Stille Nacht, lyrische Nacht,
    alles schreibt,
    Raoul Schrott.
    Stille Nacht, knisternde Nacht,
    alles feig.
    Dieter Kühn.
    Stille Nacht, zärtliche Nacht,
    alles küßt,
    Christa Wolf.
    Stille Nacht, klingende Nacht,
    alles spielt,
    Botho Strauß.
    Stille Nacht, feurige Nacht,
    alles glüht,
    Gerhard Roth.
    Stille Nacht, pünktliche Nacht,
    alles kommt,
    Gerold Späth.
    Stille Nacht, tönende Nacht,
    alles klingt,
    Ludwig Hohl.
    Stille Nacht, trunkene Nacht,
    alles säuft,
    Bertolt Brecht.
    Stille Nacht, nahrhafte Nacht,
    alles speist,
    Egon Kisch.
    Stille Nacht, brünstige Nacht,
    alles liebt,
    Thomas Mann.
    Stille Nacht, festliche Nacht,
    alles schmückt,
    Stefan Zweig.
    Stille Nacht, preiswerte Nacht,
    alles zahlt,
    Hermann Bahr.
    Stille Nacht, sportliche Nacht,
    alles spielt,
    Hugo Ball.
    Stille Nacht, zackige Nacht,
    alles steht,
    August Stramm.
    Stille Nacht, frostige Nacht,
    alles hackt.
    Arno Holz.
    Stille Nacht, grünende Nacht,
    alles pflanzt,
    Wilhelm Busch.
    Jede Regel reizt dazu, sie zu unterlaufen oder zu überspringen; naturgemäß geschah das auch mit der strengen Vorgabe der Nacht der deutschen Dichter  – sie wurde bis an die Grenzen der deutschen Sprache ausgedehnt und über den deutschen Sprachrand hinaus:
    Stille Nacht, trinkfeste Nacht,
    alles hickst,
    Peter Hacks.
    Stille Nacht, trockene Nacht,
    alles plagt,
    Grünbein Durs.
    (Bzw.: Tankred Dorst.)
    Stille Nacht, englische Nacht,
    alles big,
    Gottfried Benn.
    Stille Nacht, heilige Nacht,
    alles kommt,
    Albrecht Goes.
    Stille Nacht, endende Nacht,
    alles geht,
    Oscar Wilde.
    Stille Nacht, trunkene Nacht,
    alles voll,
    Baudelaire.
    Klaus Cäsar Zehrer aber, dem ich neben Wilfried Steiner einige besonders eindringliche Variationen verdanke, blieb es vorbehalten, das Gesetz nach dem obiges Gedicht angetreten vollkommen zu mißachten, mutwillig und nicht ohne Effekt:
    Stille Nacht, herrliche Nacht,
    alles schwärmt.
    Fritz von Herzmanovsky-Orlando.
    PS Natürlich fehlte es nicht an – naturgemäß zum Scheitern verurteilten – Versuchen, auch den Namen des Verursachers der Nacht der deutschen Dichter in letzterer auftreten zu lassen
    Stille Nacht, ermüdende Nacht,
    alle mögens weich,
    Robert Gernhardt.
    Nein – mit diesem zweisilbigen Nachnamen läuft nichts. Wie anders, hätte er sich auf eine Silbe beschränkt. Da ließe sich – unter bedeutsamem Wegfall des Kommas nach der zweiten Zeile! – eine Strophe mit wundersamem Doppelsinn verfassen:
    Stille Nacht, blätternde Nacht,
    alles liest
    Robert Gern.
    Hart, damit leben zu müssen, ein Zweisilber zu sein und zu bleiben!

    Zu »Schön, schöner, am schönsten« habe ich für den Bayerischen Rundfunk einen Erfahrungsbericht aufgezeichnet, der am 13. 3. 1990 gesendet wurde; gedruckt lag er erstmals in meiner Aufsatzsammlung Gedanken zum Gedicht, 1990, vor:
    Entstehungsgeschichte
eines Gedichts
    Dieses Gedicht habe ich in Rom geschrieben, im Verlauf eines Tages, des 22. April 1986, und seine Entstehung

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