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Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006

Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006

Titel: Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Gernhardt
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Dornburg, September 1828 überschrieben:
    Früh wenn Tal, Gebirg und Garten
    Nebelschleiern sich enthüllen,
    Und dem sehnlichsten Erwarten
    Blumenkelche bunt sich füllen;
    Wenn der Äther, Wolken tragend,
    Mit dem klaren Tage streitet,
    Und ein Ostwind, sie verjagend,
    Blaue Sonnenbahn bereitet;
    Dankst du dann, am Blick dich weidend,
    Reiner Brust der Großen, Holden,
    Wird die Sonne, rötlich scheidend,
    Rings den Horizont vergolden.
    Was da alles nachgebildet wurde, liegt klar vor Augen: Strophenform, Kreuzreim, Metrum, Syntax, Wortwahl, sowie der weitgespannte Morgen-Abend-Bogen. Mit einem Unterschied: Goethe spannt ihn über drei Strophen, sein Nachbilder ist bereits nach der zweiten am Ende. Damit aber stellte er in aller Unschuld eine für ihn folgenreiche formale Weiche.
    Denn als ich im August 1997 in Bremen zu tun hatte, als ich im Zug zur Sammlung Verweile doch, 111 Goethe-Gedichte mit Interpretationen, Herausgegeben von Marcel Reich-Ranicki griff und als ich beim Blättern auf erwähntes Gedicht, interpretiert von Reinhard Baumgart, stieß, da widerfuhr mir erneut, was der Interpret folgendermaßen beschreibt: »Dieses Gedicht aus
    Goethes achtzigstem Lebensjahr begann mich, kaum daß ich es wiedergelesen hatte, Tag und Nacht zu verfolgen. Mindestens die erste Zeile und die letzte, dazu eine Ahnung von dem weiten, hellen Sprachbogen, der von diesem Anfang zu jenem Ende sich spannt – diese drei Elemente tauchten immer wieder unwillkürlich, wie aus einem dämmernden Halbbewußtsein in mir auf. Diese Dreistrophenmusik erwies sich als Ohrwurm. Tönt denn irgend etwas aus ihr, was an Schlagerseligkeit erinnern könnte?«
    Noch im Zug zeigte der Ohrwurm abermals Wirkung. Kaum hatte ich das Buch beiseite gelegt und der Zerstreuung halber zu Heft und Stift gegriffen, da brachte die Hand das, was der erfüllte Kopf vor Augen hatte – norddeutsche Landschaft in spätsommerlicher abendlicher Beleuchtung – folgendermaßen zu Papier:
    Zeigt dem Blick sich hinter Säulen
    Schwarzer Stämme spätes Leuchten,
    Sonnengruß aus dunkler Wolken
    Unterbrochenem Befeuchten,
    Denkt das Hirn der großen Freundin,
    Deren Strahlenpfeile golden
    Mild erwärmen, jäh erhellen.
    Doch das Herz gedenkt der Holden.
    Nachtgedanken überschrieb ich das Poem und spielte ein wenig mit dem Gedanken, bei Gelegenheit eine so einfühlsame wie ehrfürchtige Interpretation nachzuliefern, doch es sollte anders kommen.
    »Wir, kaum von sich vergoldenden, eher von sich verdunkelnden Horizonten angezogen wie die Lemminge vom Abgrund, hören solchen Gedichten staunend, ungläubig und wieder staunend zu«, endet Baumgart seine Gedanken zu Goethes drei Strophen, nachdem er versucht hat, ihre erstaunlichen Ingredienzien auf die Reihe zu bringen: »Das Banale und das Feierliche, Konkretes und Moralisches und Rätselhaftes, Magie und Vernunft« – ich las es kopfnickend, ohne zu ahnen, welch berauschende Wirkung dieser Cocktail noch auf mich ausüben sollte.
    Vielleicht wäre alles anders gekommen, hätte nicht am 16. September eine spektakuläre totale Mondfinsternis heftige Erinnerungen an ein anderes Gedicht des in Dornburg weilenden alten Goethe geweckt, Dem aufgehenden Vollmonde überschrieben:
    Doch du fühlst, wie ich betrübt bin,
    Blickt dein Rand herauf als Stern!
    Zeugest mir, daß ich geliebt bin,
    Sei das Liebchen noch so fern
    - lautet die zweite der wiederum drei Strophen.
    Das Naturschauspiel in italienischer Nacht vor Augen, den aufreizenden Goethe-Sound im Kopf, den Virus einer nicht ausgereizten, sprich: ausgeheilten Mitteilungsform im Bauch, verfaßte ich vor Ort das Gedicht Mondfinsternis , ohne Plan und ohne die Absicht, weitere Gedichte gleicher Machart folgen zu lassen.
    Wie und wann die sich vermehrten, ist an der Fieberkurve der Datierungen und Massierungen abzulesen. Als das Fieber regelrecht zu wüten begann, so um den 24. September herum, wurde mir klar, daß ich zur Selbsttherapie schreiten mußte: Ich schrieb das Eingangsgedicht und setzte mir ein Limit – am Abend des 1. Oktober sollte alles vorbei sein. Die verbleibende Woche lehrte, daß der Doktor den Dichter damit unter Druck gesetzt und zu noch fieberhafterer Produktion angetrieben hatte. Der Ertrag des Selbstversuchs liegt vor; über Wert bzw. Unwert des Unternehmens mögen Berufenere ebenso richten, wie darüber, ob es dem Befallenen gelungen ist, nach und nach auch in andrer als des Meisters Zunge zu reden.
    Jedenfalls hielt ich mich an meine Worte:

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