Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006
feiernden Gegengedicht, das mit den schönen Zeilen endet:
Christus musste nicht zu Dir kommen.
Er weiß, wie Du bist.
Seine Liebe ist Dir gewiss,
Deiner Menschen wegen.
Christus blieb in Offenbach.
Dort war er dringender vonnöten.
Das Kiel-Gedicht stieß auf Widerspruch. Der Verleger Arnulf Conradi protestierte als gebürtiger Kieler, und er tat dies auch im Namen eines anderen berühmten Kielers, des Germanisten Peter Wapnewski: Sie beide eint die Überzeugung, daß Kiel doch auch andere, schöne Seiten habe.
Hat es ohne Frage, und ich bin Zeuge. Bei einem Besuch im April 1996 erlebte ich in Kiel – und im gewohnten Zimmer des gewohnten Hotels – einen ganz und gar unglaubwürdigen Frühsommerausbruch, durch welchen sich die Stadt von einer vollständig anderen Seite zeigte. Ohne Schwierigkeiten konnte ich daher das folgende, besänftigende Pendant verfassen:
Als mein Blick auf Kiel fiel,
war da sehr viel Blau.
Blaue Himmel, frohe Menschen,
worauf ich sehr klug
mich hinab begab vom neunten
Stockwerk des Hotels:
Türe auf, Augen auf,
darum, daß der Blick
rundum auf die Welt fällt.
Ach, wie Kielsehn gut tut!
Der Bodenseereiter tritt in dieser Sammlung erstmals in veränderter Textgestalt auf, und das aus gutem Grund.
Eigentlich hatte ich ja Studienrat werden wollen, Deutschlehrer und Kunsterzieher, doch mein Leben nahm einen anderen Verlauf. Ein Hang zum Korrigieren und Richtigstellen aber scheint während der Studienzeit geweckt worden zu sein, anders sind meine vielfältigen Versuche, Gedichte zu verbessern und Dichter zu berichtigen, nicht zu erklären.
In einem Beitrag für die Welt der Literatur , den die Zeitung freilich nur in Auszügen brachte, berichte ich von den zwei Seelen in meiner Brust. Von der einen, die Dichtern jede dichterische Freiheit einräumt und gönnt, und jener anderen, welche dem Gedicht dann Faktentreue abverlangt, wenn die sachlichen Fehler schlicht darauf zurückzuführen sind, daß Dichterin oder Dichter nicht richtig hingehört oder – häufiger noch – hingesehen haben.Wenn, ein Beispiel nur, Hermann Hesse im fernen Ceylon zur Feder greift und seinem Gedicht anvertraut »…scheu und schlank/Bricht durch das Schilf der wilde Jaguar«, dann bricht mit diesem Einbruch eines strikt südamerikanischen Raubtiers in den asiatischen Dschungel auch jedes Vertrauen auf die Wahrnehmungsfähigkeit des Dichters zusammen und lädiert damit die Wahrhaftigkeit des Gedichts. Grund genug, auch anderen Dichterinnen und Dichtern auf die Finger zu schauen: In besagtem Beitrag werfe ich Hugo von Hofmannsthal biologische, Rainer Maria Rilke, Gottfried Benn und Rolf Dieter Brinkmann terminologische, Ina Seidel und Michael Krüger ornithologische, Wolf Biermann zoologische und – last not least – mir selber logische Schnitzer vor:
Es ist bereits einige Jahre her, da wagte ich einen kühnen poetischen Brückenschlag: Passend zur Melodie des Lennon/McCartney-Titels Paperbackwriter und nach Motiven der Ballade Der Reiter und der Bodensee von Gustav Schwab dichtete ich eine aktualisierte Fassung des bekannten Vorgangs, die mit den Worten anhebt:
Ein Mann wollte schnellstens von A nach B,
zwischen A und B liegt der Bodensee
Der ist zugefroren, was der Mann nicht weiß, weshalb er auch nichts vom See unterm Schnee ahnt, bis er schließlich den Lichterschein eines Orts erblickt. Da der Reiter erklärtermaßen von A nach B wollte, kann es sich nur um B handeln, doch gegen alle Gesetze der Logik heißt es in meinem Gedicht:
Da ist endlich A, denkt der Reitersmann,
da staunt eine Frau groß den Fremden an.
Sie fragt den Reiter, ob er von weither komme, worauf ich mich immer weiter vergaloppiere.
Von dahinten, sagt er, und sie fragt: Vom See?
Ist hier nicht A? fragt er – Nein, sagt sie, hier ist B.
Mit Schwabs Worten ende ich die in doppelter Hinsicht traurige Geschichte:
Da stocket sein Herz, er sinkt vom Roß herab,
und am Ufer ward ihm ein trocken Grab.
Reiter tot, Klappe zu? Jahrelang schien es so. Das Gedicht wurde veröffentlicht, das Buch Lichte Gedichte kam in verschiedener Gestalt, auch als Taschenbuch, unter nicht wenige Leute, doch ansonsten herrschte Friedhofsruhe: Keine Leserin, kein Leser monierte den logischen Lapsus, bis eines Tages – wenn man nicht alles selber macht! – der Dichter beschämt seinen Fehler erkannte:
Da stocket sein Herz, doch es stockt nicht lang,
denn flugs hat er ihn korrigiert, den Gesang:
»Da ist endlich B«, denkt
Weitere Kostenlose Bücher