Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006
Ideen, nicht seinem Werk den Prozeß machten. Weniger freundlich die Stimmen, welche nur noch Teile von Kins Werk gelten lassen wollten, wobei einige der Kritiker jene Gattungen bzw. Phasen bevorzugten, die Kin selber weniger hoch geachtet hatte, die Lyrik beispielsweise oder das Frühwerk, andere aber gingen so weit, einzig und allein einem Bruchteil des Kinschen Erbes, beispielsweise dem Fragment gebliebenen Werkstück Fatzer , bleibenden Wert zuzusprechen.
Und schließlich waren da noch jene, die bereits beide dem dunkelsten Orkus verfallen sahen, Ideen wie Werk, freilich nur, um das Leben Kins vor solch düsterer Folie um so heller erstrahlen zu lassen: Derart exemplarisch habe Kin die Widersprüche seiner Epoche erlebt und gelebt, daß sein Lebenslauf recht eigentlich jenes Kunstwerk darstelle, das allein es rechtfertige, dieses ansonsten doch mehr als fragwürdigen und abgetanen Dichters zu gedenken. Ja, es gab sogar mißtrauische Geister, die sich Kins überreiche Produktivität nicht anders zu erklären vermochten, als daß er sich vampirhaft anderer Lebenssäfte und Phantasiekräfte bemächtigt habe, ein Verdacht, aus welchem sie die Berechtigung ableiteten, die Keller der Kinschen Biographie rücksichtslos nach Leichen zu durchsuchen und bei jedem Fund, der einem Knöchelchen auch nur entfernt ähnelte, »Beweisstück« zu schreien.
Ge-ga hörte all jenen Stimmen voll nachsichtiger Belustigung zu. »Mit unserem Altmeister Go-e-te schließe ich aus großen Wirkungen auf große Ursachen«, sagte er. »Die Säure des Ingrimms, mit der die Verächter Kins den Jubilar überschütten, ist für den Verachteten ungleich belebender, als es der parfümierteste Weihrauch sein könnte.
›Wer wird nicht einen Og-op loben/Doch wird ihn jeder lesen? Nein‹, dichtete Meister Es-ing einst, um fortzufahren: ›Wir wollen weniger erhoben/Und fleißiger gelesen sein.‹ Was aber könnte mehr zur Lektüre anstacheln als die Behauptung, der Verfasser gehöre nicht der Literatur-, sondern der Kriminalgeschichte an? Daher bin ich guten Mutes, daß Kin, anders als – beispielsweise – seine zu ihrer Zeit hochberühmten und, zumindest in ihren Schriften, sittlich höherstehenden Zeitgenossen und Kollegen Lu oder Fe-hu-wang, auch von kommenden Generationen gelesen werden wird. Denn wenn etwas partout nicht umzubringen ist, dann jenes gesunde Interesse am Verbrechen, das bereits der junge Kin an den Tag legte, als er den Elternmörder Jakob Apfelböck und die Kindsmörderin Marie Farrar besang. Und wer erstmal so weit ist, die Hauspostille des übel beleumdeten Kin aufzuschlagen, der wird auch nach weiteren hundert Jahren nicht umhin können festzustellen, daß da kein teuflischer Verbrecher, sondern ein höllisch begabter Dichter am Werk gewesen ist.«
Über das Verbessern
In jungen Jahren hatte sich Kin die Grabinschrift REIN. SACHLICH. BÖSE gewünscht, älter werdend war er mehr und mehr darauf aus gewesen, das seiner Meinung nach Gute zu loben und die Freundlichkeit als solche zu preisen.
Ge-ga, der diesem positiven Kin so wenig über den Weg traute, wie er den negativen hoch schätzte, versäumte es daher nicht, sich bei der Kin-Lektüre stets eines Stifts zu vergewissern, mit dessen Hilfe er immer dann eingriff, wenn Kin in seinen Augen mal wieder des Guten zu viel tat. So, als er auf Kins Lob der Partei stieß, das mit den Zeilen beginnt: »Der einzelne hat zwei Augen/Die Partei hat tausend Augen.«
»Der einzelne hat nur zwei Augen/Die Partei hat ein Auge«, berichtigte Ge-ga.
Auch den Schluß des Gedichts »Vergnügungen« mochte er nicht so stehen lassen, wie Kin ihn hingeschrieben hatte: »…Begreifen/Neue Musik/Schreiben, Pflanzen/Reisen/Singen/Freundlich sein«–: »Freundlich tun«, korrigierte Ge-ga.
»Aber du kannst doch nicht einen Kin verbessern wollen!« wurde ihm entgegengehalten.
»Wer spricht hier von wollen?« versetzte Ge-ga. »Ich verbessere ihn.«
»Wer gibt dir das Recht dazu?« fragte man Ge-ga.
»Der Dichter Kin«, erwiderte Ge-ga. »Lest nur einmal nach, wie der die Gedichte der Dichterin I-ba zusammengestrichen hat. Dabei lebte die zur Zeit der Kinschen Verbesserungen noch und hätte sie selber leisten können. Um so einleuchtender, dem, der seine Gedichte ablebenshalber nicht mehr selbst zu verbessern imstande ist, diesen Dienst zu erweisen!«
»Ich verstehe«, lenkte Ge-gas Gegenüber ein. »Du verbesserst Kins Gedichte nicht aus Besserwisserei, sondern aus Freundlichkeit!«
»O
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