Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006
wer wie ich seine Gedichte nicht in esoterischen Literaturzeitschriften, sondern, jedenfalls hin und wieder, in Publikumsorganen unters Volk bringt, bekommt selten eine direkte Reaktion zu spüren und horcht dementsprechend interessiert auf, wenn sich gleich vier Leser über ein und dasselbe Gedicht empören. Das ereignete sich nach dem Abdruck von »In Mantua«, das am 2. 7. 1994 in der ›FAZ‹ erschienen war. Ein bemerkenswert repräsentativer Querschnitt gehobener Berufe hatte da zur Feder gegriffen: »Berthold Daut, Oberstudienrat i.R.«, »Eduard Mirow, Botschafter a.D.«, »Dr. phil. Werner S. Nicklis, em. Universitätsprofessor« sowie »Adolf Schuster sen.« Soweit die Briefköpfe der Standpaukisten, und soviel zu ihrer Einschätzung meines Werks: »Schlicht katastrophal«, »Moderner Schwachsinn oder psychische Krankheiten sind zu bedauern«, »Pseudolyrische Totgeburt« – doch bevor ich auch aus der etwas anderen Einlassung von Adolf Schuster sen. zitiere, rasch ein Wort der Verwunderung über das erstaunliche Altherren-Quartett, welches eine aparte Laune des Schicksals da aus Anlaß einer einzigen, allerdings elfmal so apostrophierten »scharfen Frau« zusammengeführt hatte: i.R., a.D., em. und sen. – mehr Ausmusterungskürzel sind mir nicht geläufig, und ich bezweifle, daß unser Kulturraum noch weitere anzubieten hat.
Wobei Adolf Schuster sen. zwar alt sein mag, sich jedoch einen derart jugendlich süffisanten, ja genuin satirischen Blick auf die Medienwelt bewahrt hat, daß ich ihm seine Erregung nicht ganz abnehme:
»Betrifft: Moderne ›Lyrik‹ in der FAZ vom 2.7.94.
Die FAZ kommt einem hier vor wie die ältliche Leiterin einer Jungfrauenkongregation, mit Dutt und Nickelbrille und langem Rock bis zu den Knöcheln, die plötzlich in einer seltsamen Anwandlung den Eindruck von Verruchtheit erwecken will, indem sie auch noch den zweiten der 6 Knöpfe ihrer, die flache Brust bedeckenden grauen Bluse öffnet.«
Als das Gedicht »Mühlheim/Main – Blues« am 2. 2. 1994 im Feuilleton der ›FAZ‹ veröffentlicht wurde, schwante mir, daß jemand an seiner Botschaft Anstoß würde nehmen können. Aber wer? Ein Vertreter der großen Religion? Ein Bewohner des kleinen Städtchens am Main? Der Brief, der wenige Tage später in der Redaktion eintraf, lehrte mich einmal mehr, daß das Leben noch immer die besten Geschichten schreibt oder doch zumindest solche, die jedwede Dichterphantasie in den Schatten stellen:
Kling & Kollegen
Rechtsanwälte
EINSCHREIBEN/RÜCKSCHEIN
08.02.94
Sehr geehrte Damen und Herren,
die Firma
Kühlhaus-Center Mühlheim-Main
hat uns mit der Wahrnehmung ihrer Rechte Ihrem Haus gegenüber beauftragt.
Am 02.02.94 haben Sie ein Gedicht eines Herrn Robert Gernhardt mit dem Titel »Mühlheim/Main – Blues« veröffentlicht. Dieses Gedicht befaßt sich in eindeutig negativer bis böswilliger Absicht mit den Tiefkühl-Lebensmitteln und stellt sie auf die Stufe eines Formaldehyd-verseuchten Hauses.
Juristisch ist meine Mandantin betroffen, weil sie in Mühlheim/Main ein modernes Tiefkühl-Lebensmittellager für eben die von Ihrem Gedichtsverfasser verteufelten Tiefkühl-Lebensmittel unterhält.
Der Bezug zur Stadt Mühlheim/Main wird in dem Gedicht mehrfach und im Titel an herausgehobener Stelle hergestellt. Die Verteufelung des Produkts »Tiefkühl-Kost« durch Ihren Gedichtsverfasser wird damit räumlich auf eine Quelle in Mühlheim/Main und damit auf das Kühlhaus unserer Mandantin ausgedehnt. Es hat bereits mehrere Anfragen von Dritten gegeben.
Unsere Mandantin möchte weiterhin ihren Gewerbebetrieb in ungestörter Weise ausüben. Deswegen fordern wir Sie und Herrn Robert Gernhardt auf, Veröffentlichungen zu unterlassen, in denen ein zwingender Zusammenhang zu dem Gewerbebetrieb unserer Mandantin hergestellt wird und dieser als Quelle des vom Gedichtsverfasser vermeintlich erkannten Übels identifizierbar gemacht wird. Über die entsprechende Information des Herrn Robert Gernhardt erbitten wir eine Bestätigung Ihres Hauses.
Mit freundlichen Grüßen
Kling und Kollegen
Rechtsanwälte
Verloren ist kein Wort. Kling & Kollegen schwiegen zwar in der Folgezeit, doch regte sich eine andere Stimme, die Karl-Christian Schelzkes, laut Briefkopf Oberstaatsanwalt a.D., Bürgermeister a.D., wohnhaft in Mühlheim a.M.
Er lud mich im November 2004 in seine Gemeinde ein, »auf ein Stück (Tiefkühl-)Kuchen«, und er krönte seinen Brief mit einem Mühlheim
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