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Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006

Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006

Titel: Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Gernhardt
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Pünktlich um 20 Uhr des angekündigten Abends schrieb ich das letzte der gut neunzig Gedichte, und danach war wiederum Ruhe im Karton.
    Ich habe im vorliegenden Zyklus die Produkte des Anfalls so gut wie vollständig versammelt, da der ungewöhnliche Versuch eine ungewohnte Nachsicht gegenüber dessen Ergebnissen notwendig machte. Auch habe ich darauf verzichtet, kompositorisch einzugreifen. Sämtliche Gedichte erscheinen in der Reihenfolge ihres Entstehens und sollten in toto als konzeptuelles Ensemble gewertet und als Antwort auf die Frage gelesen werden: Kann es das Singen bringen? Beziehungsweise: Wird es das Dichten richten?
    Der korrekte Abbruch des Experiments fiel mir auch deswegen nicht schwer, weil mit dem 1. Oktober eine meteorologische Normalität zurückkehrte, der die vorangegangenen Septembertage aufs herrlichste Hohn gesprochen hatten. Dabei war mir eine peinliche Erfahrung nicht erspart geblieben. Je länger das gute Wetter andauerte, desto gespannter lauerte der Dichter auf die wohlfeile Schlußpointe eines rabiaten Wetterumschwungs, und in einer schwachen heißen Stunde antizipierte er schon mal prophylaktisch den Regen, im festen Glauben, der könne nicht ausbleiben. Aber nichts da. »Ungeschöntes Leben« hatte ich im Eingangsgedicht versprochen und fiel ausgerechnet mit einem Schlechtwettergedicht auf den Bauch: Die anhaltend schönen Tage entlarvten es als ein unwahres, um eines poetischen Effekts willen geschöntes Poem, und wenn ich es hier einrücke, dann aus zwei Gründen: Erstens um – Hand aufs Herz – zu versichern, daß diese Beschönigung ein einmaliger Ausrutscher inmitten all der anderen, durchgehend strikter Anschauung verpflichteten Gedichte gewesen ist, und zweitens seiner beherzigenswerten Moral wegen:
    Scheut der Fuß des Wandrers plötzlich
    Raschen Bachs in schnellem Lauf,
    Und es zieht am dunklen Himmel
    Andres Wasser dräuend auf -
    Nimm dein Herz in beide Hände.
    Spring! Als gelte es dein Leben!
    Besser bäuchlings selbst zu scheitern,
    Als sich rücklings zu ergeben.
    Mein Klappaltar hat zwei Flügel, die durch ein Scharnier zusammengehalten werden. An letzteres hatte ich bei der Planung des Büchleins keinen Gedanken verschwendet, da erreichte mich zum Jahresende die Nachricht, die Stadt Augsburg wolle mir 1998 den Bert-Brecht-Preis zuerkennen. Frank Wolff, dem ich vom Klappaltar-Plan erzählt hatte, brachte Brecht als Scharnier ins Spiel – 1997, 1998, 1999–, und mir leuchtete diese konstruktive Idee sogleich ein. Analog zu Brechts Gedicht Auf einen chinesischen Theewurzellöwen verfaßte ich Auf ein Scharnier :
    Dem Schlechten schließt du die Tür vor der Nase
    Dem Guten öffnest du Tor und Augen
    Derlei
    Hörte ich gern
    Von meinem Vers…
    …tanden?!
    Damit, glaubte ich, sei das Scharnier-Problem aus der Welt, doch auch diesmal sollte es anders kommen. Das Kulturamt der Stadt Augsburg teilte mir mit, es plane eine Anthologie zum Thema »Wie sehen Sie Bertolt Brecht heute?«, faßte mich am Preisträger-Portepee und bat um einen Beitrag. Ich blätterte in meinem Brecht und blieb derart an dessen Prosa-Torso »Me-ti/Das Buch der Wendungen« hängen, daß mich ein dritter, freilich herzlich harmloser Anfall mehr streifte denn ereilte, gerade lang genug, um zwischen die Hommagen der beiden poetischen Flügel noch ein handfest prosaisches Scharnier einpassen zu können.

    Der Vollständigkeit halber sei in diesem Anhang auch Brechts gedacht und meiner Stimmenimitation des Meisters, der seinerseits in chinesischen Zungen sprach:
    O-mei/Buch der Windungen
    Verzeichnis der Namen
    Brecht: Kin
    Henscheid: He-hei
    Gernhardt: Ge-ga
    Goethe: Go-e-te
    Klopstock: Og-op
    Lessing: Es-ing
    Emil Ludwig: Lu
    Feuchtwanger: Fe-hu-wang
    Ingeborg Bachmann: I-ba

    Über das Lachen
    Hörend, er solle den Kin-Preis erhalten, sei er zusammengezuckt, räumte Ge-ga ein. »Aber nur für einen Moment«, setzte er hinzu. »Vergleichend Kins auf dem ganzen Erdball gerühmtes Riesenwerk mit meinen unscheinbaren, selbst einem Großteil meiner Landsleute unbekannten Hervorbringungen, hielt ich mich nicht lange bei dem Gedanken auf, es könne mir als Anmaßung ausgelegt werden, meinen Namen mit dem Kins in Verbindung zu bringen. Wer reizt bei der Hochzeit zwischen einem Elefanten und einer Maus mehr zum Lachen? Der Bräutigam? Die Braut? Oder der Priester, der das ungleiche Paar allen Ernstes zu trauen gewillt ist? Die Antwort erscheint mir nebensächlich angesichts der Tatsache, daß es

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