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Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006

Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006

Titel: Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Gernhardt
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Um vom Brecht zu lernen,
    muß man sich soweit wie möglich vom Brecht entfernen.
    Der Brecht hat die Bücher der Klassiker immer mit großer Sorgfalt gelesen
    und ist gerade deshalb nicht vor ebenso großen Irrtümern gefeit gewesen.
    Wäre es nicht zur Abwechslung auch mal gutzuheißen,
    all die Schriften nicht zu verhimmeln, sondern auf die Erde zu schmeißen?
    Macht also ruhig weiter. Die brauchbaren werden das schon überstehn.
    Und dann laßt uns einen Whiskey kippen und eine Henry Clay rauchen gehn.«
    Lied von linkischen Amis
    Linkische Amis,
    als schämten sie sich, auf der Welt zu sein.
    Wie linkisch sie Trinkgeld geben!
    So ganz ohne Großmachtallüren.
    Anderswo, unter wärmerer Sonne,
    gibt es Leute, die sterben,
    wenn sie mit linkischen Amis
    zusammentreffen.
    (Linkische Amis,
    man darf sie nur nicht auf die Tropen loslassen.
    Linkische Amis,
    man kann sie aber ruhig zum Italiener schicken.)
    Hier, mitten in Frankfurt,
    sterben sie selbst fast tausend Tode,
    hilft der Ober in die Wintersachen
    linkischen Amis.
    Fliegengedicht
    In dieses Volk hineingeborn -
    was hab ich in dem Volk verlorn?
    In diesem Volk, wo morgens die Getretenen
    ihrem Spiegelbild schwören: Schluß mit dem
    Stiefellecken, heute müssen Köpfe rollen
    Schluß Schluß Schluß
    In diesem Volk, wo mittags der Glanz der
    frischgeleckten Stiefel all diejenigen blendet,
    die sich die Visagen der Treter einprägen wollen
    Glanz Glanz Glanz
    In diesem Volk, wo abends die randvollen Gläser
    die Angst der Köpfe der Getretenen vor dem
    Rollen auslöschen sollen
    Angst Angst Angst
    In diesem Volk bin ich daheim.
    So spricht die Fliege auf dem Leim.
    Als er zum 3 . Oktober 1990 gefragt
wurde, was er von Deutschland
erwarte und was er dem vereinten
Land wünsche
    Deutsche! Frei nach Bertolt Brecht
    rate ich euch, wählet recht:
    Von den Zielen die wichtigen
    Von den Mitteln die richtigen
    Von den Zwängen die spärlichen
    Von den Worten die ehrlichen
    Von den Taten die herzlichen
    Von den Opfern die schmerzlichen
    Von den Wegen die steinigen
    Von den Büchern die meinigen.
    15. 1 . 91  – der Tag, an dem
as Ultimatum ablief
    Das Hörnchen war gut
    wie schon lange nicht mehr
    Der Kaffee war stark
    wie schon lange nicht mehr
    Der Himmel war blau
    wie schon lange nicht mehr
    Die Sonne schien hell
    wie schon lange nicht mehr
    Ich ging so beschwingt
    wie schon lange nicht mehr
    Ich war so verzückt
    wie schon lange nicht mehr
    Ich schrieb so erfüllt
    wie schon lange nicht mehr
    Ich sah so berückt
    wie schon lange nicht mehr
    Die Sicht war so klar
    wie schon lange nicht mehr
    Der Berg war so rot
    wie schon lange nicht mehr
    Der Abend war schön
    wie schon lange nicht mehr
    Die Sonne versank
    wie lange nicht mehr.
    Die Verleihung
des Kränkungspokals
vom 3 .  7 .  1993
    Dachte am Vormittag noch: Den krieg' ich.
    Wußte am Nachmittag schon: Nicht heute.
    Tiefere Kränkung als ich erlebte
    an diesem Samstag Jana Novotna.
    Führt vier zu zwei im Dritten und hat schon
    mit sechs zu eins den Zweiten im Sack,
    muß also nur noch zuschnürn, da ist sie
    nervlich total fix und foxi,
    sagt erst der Sprecher, dann seh' ich es selber:
    Doppelfehler die Menge, der Aufschlag
    läßt sie im Stich, die Volleys verschlägt sie -
    hoch reißt die Arme beim vier zu sechs jene,
    die schon geschlagen schien, Miss Graf, die Steffi.
    Unsere Steffi! Stolz hob sie die Schale,
    aber als zweite. Erst kriegte ihr Schälchen
    Jana Novotna. Ihr flossen die Tränen
    bei dessen Anblick: »Ach Schälchen so winzig,
    sollst du auch zu mir, ich will doch die Schale.
    Kann die nicht mein sein, so möchte ich sterben.
    Hier nach dem Endspiel, hier auf dem Rasen
    des Centre Courts, hier in Wimbledon. Bitte
    laßt mich in euren Armen verscheiden,
    Herzogin!« Aber vom Weinen alleine
    ist bisher niemand gestorben, da braucht's schon
    was in den Rücken, wie neulich in Hamburg.
    Denkt an den Stich, hat die sich denn seither
    wieder gemeldet? Und war doch die Erste,
    Monika Seles, bevor der Typ zustieß,
    einer aus Naumburg in eine vom Balkan,
    damit unsre Steffi wieder die Eins wird,
    was sie auch wurde. Was lernen wir daraus?
    Dies vielleicht: Jana stünde es gut an,
    nicht so zu weinen, gestützt von den Armen
    der Duchess of Kent. Und unserer Steffi
    stünde es sehr gut an, nicht so zu jubeln,
    sondern der Monika still zu gedenken,
    der Armen. War Nummer Eins und ist jetzt
    das Letzte. Hat so gestöhnt und ist jetzt
    die Stillste. Ist zwar am Leben, doch ist das
    ein Leben?

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