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Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006

Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006

Titel: Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Gernhardt
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Worte über den Tiger und warum
    keines über den Kupferschieferhering?
    Kennse das Perm? An seinem Ende passierte
    das konkurrenzlos größte Artensterben
    der Erdgeschichte. Ganz ohne menschliches Zutun
    ließ damals Mutter Natur so gut wie alles,
    was wuchs oder schwamm oder kroch, kurz, was lebte,
    über die Klinge springen. Nur zwanzig von hundert
    Arten schafften die Kurve ins Erdmittelalter,
    ins Trias. Nicht bei den Glückspilzen der besonders
    häufige Kupferschieferhering. Vielleicht könnse
    auch mal ein gutes Wort über den verlieren,
    ungeachtet der Tatsache, daß der bereits
    vor zweihundertfünfundvierzig Millionen Jahren
    den Löffel abgeben mußte. Art ist doch
    Art. Tier ist doch Tier. Hin ist doch hin -
    oder greifense lediglich dann in die Leier, Meister,
    wennse uns Menschen eins auswischen können? Hamse
    denn gar kein Herz für den friedlichen, für den niedlichen
    für den Kupferschieferhering, Meister?
    7
    Mutter, zum Abendessen kann ich nicht kommen
    Mutter, ich muß meinem Freund Mowgli beistehn
    Mutter, du siehst doch: Ich bin ein schwarzer Panther
    und heiße Bagheera.
    Die Abenddämmerung ist die Stunde des Tigers
    An der Wasserstelle lauert Shir Khan auf sein Opfer
    Kein Geschöpf im Dschungel, das er nicht zu täuschen versteht,
    außer Bagheera.
    Nein, Mutter, ich kann jetzt Mowgli nicht im Stich lassen
    Doch, Mutter, ich sehe den Tiger ganz deutlich
    Klar, Mutter, du kannst Shir Khan nicht erkennen,
    aber Bagheera kann das.
    Seit wann muß auch ein Panther zu Abend essen?
    Wieso ist Mowgli schon lange schlafen gegangen?
    Was heißt denn das: Es gibt hier gar keine Tiger?
    Ist hier nicht Indien, Mutter?
    8
    Panthergleich hechtete sich der Tiger auf das
    Warzenschwein
    (Unruhe)
    um sich im nächsten Moment wieder
    wieselflink
    (Verstärkte Unruhe)
    einzuigeln.
    Dieser Satz, den ich dem Buch »Shingar, der aal-
    glatte Tiger« von Erwin Tagore entnommen habe -
    (Starke Unruhe)
    Wirklich, wir leben in tigerlosen Zeiten! Meine
    Sprüche waren schon mal wich-tiger, Ihre
    Kritik war schon mal rich-tiger, meine Witze waren
    schon mal saf-tiger, Ihr Beifall war schon mal
    hef-tiger, wir alle warn schon mal lus-tiger
    (Eisige Unruhe)
    9
    Der Tiger lebt von Ort zu Ort
    nur noch als Werbung fort.
    Er zeigt sich in der Abendstund
    und macht den Bildschirm bunt.
    Aus Öl entsteht er geisterhaft
    und gibt dem Motor Kraft.
    Wer weiß! Nach Jahr und Tag sind wir
    auch ganz wie jenes Tier.
    Bewegte Bilder, die man liebt,
    weil's uns als Körper nicht mehr gibt.
    Vorm Fernseh sitzt die Nachwelt dann
    und schaut sich Menschen an.
    Gespräch mit dem Engel
    Ein Geräusch in der Luft,
    wie von großen Maschinen:
    »Sagn Sie mal – läßt sich das nicht abstellen?«
    »Damit kann ich leider nicht dienen.
    Das ist das Stöhnen Gottes
    beim Betrachten seiner Welten.
    Das heißt: Manchmal lacht er auch über sie.
    Aber selten.«
    Jakobinischer Wandersmann
    I
    In Engelszungen sang
    der schlesische Cherub.
    Wer fällt ihm hier ins Wort?
    Ein Mensch? Der Beelzebub?
    II
    Mensch, rede nicht von Gott.
    Was ist von Gott zu sagen?
    Er siegte, sah und kam,
    um uns ans Kreuz zu schlagen.
    Mensch, werd' vor Gott nicht weich,
    denn Gott ist mit den Harten.
    Kaum wurde Adam bleich,
    schon flog er aus dem Garten.
    Vor Gott ist alles eins.
    Sein Nehmen ist ein Geben:
    Er gibt den Tod und nimmt
    im Gegenzug das Leben.
    Mach dir nur einen Reim
    auf beide, Mensch und Gott:
    Du findest kein' auf Mensch
    und erntest für Gott Spott.
    Ihr Menschen, lernet doch
    von Wiesenblümelein:
    Gott hat euch ausgesät,
    und ihr geht dennoch ein.
    Die Ros' ist ohn' Warum,
    kein Zweifel an ihr naget,
    denn da ist ja der Mensch,
    der ihr das Darum saget.
    Wo Gott ein Feuer ist,
    so ist mein Herz ein Herd,
    auf welchem er sein Supp'
    kocht, abschmeckt und verzehrt.
    Warum daß Gottes Geist
    wie eine Taub' erscheint?
    Er tut's, weil er damit
    den Fuchs zu tarnen meint.
    Gott ist mein Stab, mein Licht,
    mein Pfad, mein Ziel, mein Hirt,
    mein Kind, das all das glaubt
    und darob selig wird.
    Gott spricht nur immer Ja,
    der Teufel immer Nein:
    Drum ist der Mensch verdammt,
    der Schiedsrichter zu sein.
    Nichts dünkt mich hoch zu sein,
    ich bin das höchste Ding,
    weil auch Gott ohne mich
    sich selber ist gering.
    III
    »Mensch werde wesentlich« -
    wer solches sagt, der irrt.
    Er sorge vielmehr, daß
    sein Wesen menschlich wird.
    Im Chianti
    Weh dem, der hat.
    Ihm kann genommen werden:
    »Ist der Blick von unsrer Terrasse nicht makellos?
    Ich kenne

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