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Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006

Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006

Titel: Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Gernhardt
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kann nicht klagen.
    - Könntest du dann nicht zur Abwechslung
    - Was?
    - Die Wahrheit sagen?
    - Worüber?
    - Über deinen ersten Besuch in Ansbach zum Beispiel.
    Die Stadt lag an der Strecke
    Stuttgart-Neuendettelsau.
    In Stuttgart hatte ich mein
    Kunststudium begonnen.
    In Neuendettelsau machte er
    sein Erzieherpraktikum.
    Beide hatten wir in
    Göttingen das Abi gebaut, 56.
    Daß ich den Freund besuchte, war
    doch wohl Ehrensache:
    Als wir uns vorm Wicklesgreuther Bahnhof
    trennten, war es früher Sonntagnachmittag.
    Hitze draußen, drinnen drei, vier Gäste,
    einer davon sichtlich weggetreten.
    Während er nach noch mehr Bier verlangte,
    plagte mich vor einer Limonade
    jene Frage, die der Freund am Vortag
    nicht verneint und nicht bestätigt hatte:
    Hast du schon mal mit 'ner Frau geschlafen?
    Große Frage! Plötzlich Lärm im Gastraum.
    Einer greift sich wen, schiebt ihn ins Freie,
    auf den Bahnsteig. Oder auf die Gleise?
    Ah, zu hell da draußen. Zu belanglos
    dies Gekabbel zwischen Wirt und Trinker
    vor dem dunklen Grund der Ungewißheit:
    Hatte er schon? Werde ich wohl jemals?
    Später dann im leeren, heißen Abteil
    fand die Hand zum Glied. Mit offnen Augen,
    die doch nichts mehr sahn, ging's durch der Gegend
    sehr viel Blau und irgendwelche Wolken,
    Waldrand hinten, vorne Weizenfelder,
    unerheblich wie der Takt der Schwellen,
    der jäh abriß. Kreischen. Plötzlich waren
    beide Hände voll damit beschäftigt,
    Halt zu suchen, bis das alles stillstand.
    Was war los? Weshalb die Unterbrechung?
    Dann die Rufe, halblaut. Türenschlagen.
    Amtspersonen springen auf den Schotter.
    Fingerzeige. Eilig ab ins Kornfeld.
    Dort im Kreis verharrn, gesenkten Kopfes.
    Wir im Zug nun alle an den Fenstern,
    alle starrn wir auf den Kreis im Kornfeld.
    Einer fragt. Ein andrer rätselt. Alle
    haben Scheu, die Stimme zu erheben,
    dabei sind wir doch nicht in der Kirche.
    Aber alle haben wir mit angesehen,
    wie da einer was im Kornfeld hochhob,
    voller Hast, als sei dies ungehörig,
    kaum betrachtet, ließ er es schon fallen,
    nicht zu sagen was, bei der Entfernung.
    Als wir dann im Bahnhof Ansbach einfuhrn,
    wurde die Verspätung kurz bedauert.
    Alles ging so rasch, daß ich noch lange
    rätselte: Was fielen da für Worte?
    War von Stör-, von Unglücksfall die Rede?
    - Erzähl ruhig weiter.
    - Geht's nicht auf die Nerven?
    - Ich hab' noch Reserven.
    - Für Ansbach zum zweiten?
    69 kam ich wieder nach
    Ansbach.
    Lief umher und kam ins Grübeln in
    Ansbach.
    Denn im weiten Park des Schlosses von
    Ansbach
    las ich eine Inschrift, die schien recht
    knifflig:
    Hic occultus
    occulto
    occisus est
    XIV DEC MDCCCXXXIII
    Das stand auf einem Stein
    und war ganz klar Latein.
    Was da geschehen war,
    war freilich nicht so klar.
    Bei all dem occ, occ, occ
    ging ich ganz schön am Stock,
    doch mit Geduld und Spucke
    fing ich auch diese Mucke:
    Hier wurde der Verborgene
    auf verborgene Weise
    getötet
    14. Dezember 1833
    - Das Opfer war Kaspar Hauser?
    - Das begriff ich erst später.
    - Und als Opfer fühltest auch du dich?
    - Auf jeden Fall nicht als Täter.
    - Eher als Bruder im Geiste?
    - Ich glaubte mich ihm verwandt.
    - Verwandt in welcher Hinsicht?
    - Unbehaust, ungeliebt, unbekannt.
    - Du ein geschichtsloser Schemen?
    - Ja.
    - Und das soll ich dir abnehmen?
    Warum nicht? Ein Unbehauster
    war auch ich in jenem Frühjahr,
    als die Frau mir anvertraute:
    Du, da gibt es einen andern.
    Nichts wie weg. Erst kurz vor Würzburg
    überlegte ich: Wohin denn?
    Amberg? Bamberg? Nürnberg? Bayreuth?
    Dann die Flatter hinter Würzburg.
    Bis die Abfahrt kam, das zog sich.
    Fahr mal, wenn das Herz verrückt spielt.
    Runter. Valium. Drei Kreuze.
    Das war knapp. Dann wieder Straßen,
    Regen, Hinweisschilder, Ansbach.
    Ansbach – war ich da nicht schon mal?
    Wird schon dunkel. Also Ansbach.
    Ansbach also. Zimmersuche.
    Ja, das nehm' ich. Eilig weiter.
    Schließlich muß der Mensch was trinken.
    Aber wo? Auf Ansbachs Marktplatz
    war nichts los. Doch sehr in Eile
    kommt wer keuchend, rennt ins Helle,
    stöhnt dabei. Im Licht der Lampen
    wirkt er strange . Wie hieß denn noch mal
    diese Jacke? Und weg war er,
    rot und schwarz kariert. Noch als ich
    das Lokal betrat, da lag's mir
    auf der Zunge. Ja, ein Helles!
    Dunkler Abend. Je mehr Helle,
    desto düsterer sie alle,
    Schankraum, Kellner, Gäste, Zukunft.
    Plötzlich kreischt es. In der Tür steht
    eine Frau und weist nach oben,
    kreischend, daß in ihrem Zimmer
    jemand unter ihrem Bett läg',
    nie gesehn,

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