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Gesammelte Wanderabenteuer

Titel: Gesammelte Wanderabenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manuel Andrack
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war der Landbevölkerung vor allem Hindernis, das es zu bezwingen oder das es ohne große Umwege zu durchqueren galt. Aber am Anfang des 19. Jahrhunderts war Wandern zur Freizeitbeschäftigung der gebildeten Schichten geworden. Johann Gottfried Seume, der von Leipzig bis nach Syrakus gewandert war, schrieb ohne falsches Pathos: »Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbständigste in dem Manne und bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. Fahren zeigt Ohnmacht, gehen Kraft.« Spitze! »Fahren zeigt Ohnmacht, gehen Kraft« ist ein Superslogan für einen Autoaufkleber. Besser noch ist der Satz natürlich als Sinnspruch für einen Wanderrucksack-Aufkleber geeignet, um die frohe Botschaft hinaus in die deutschen Mittelgebirge zu tragen.
    Die Romantiker wanderten erstmals, weil sie wollten, nicht weil sie mussten. Sie wanderten durch die Natur, um die Natur zu genießen, und nicht um möglichst schnell an ein Ziel zu gelangen.
    In diesem Sinne verfehlte gerade der Weg, auf dem wir unterwegs waren und der auch noch den Namen Goethes trug, völlig seinen romantischen Zweck. Denn diesen Weg war Goethe nicht um der Natur willen gegangen, sondern um möglichst schnörkellos ins Bett von Frau von Stein zu gelangen. (Dass sich das jetzt auch noch reimt, ist echt Zufall. Ehrenwort.)
     
    |115| Nach Schwarza ging es einen Hügel hoch. Der Weg wurde jetzt steiler, und vor uns erhob sich eine Bodenwelle, über die eine Holztreppe führte. Von unten erinnerte die Bodenwelle an einen Deich an der Nord- oder Ostsee, und man erwartete dahinter unweigerlich das rauschende Meer. Aber nix da. Hinter der Holztreppe erstreckte sich eine Hochebene. Der Wanderweg schlängelte sich als dünnes Band durch die Landschaft. Man konnte schon bis zum nächsten Ort, Hochdorf, schauen, der ungefähr vier Kilometer entfernt war. In der nächsten Dreiviertelstunde war somit mit keinerlei Überraschungen zu rechnen. Langsam wurde es öde. Es war gut, nun nicht allein zu wandern und jede Menge Zeit für besinnlich-meditativ-kontroverse Themen aller Art zu haben.
     
    Wir wetteten, wie weit Warschau von der deutsch-polnischen Grenze entfernt ist. Ich sagte, 300 Kilometer, Victor, 480 Kilometer. Später haben wir das ausgemessen. Victor hatte knapp gewonnen, wenn man von der Luftlinie ausgeht.
    Wir verglichen die Stärken und Schwächen der einzelnen Mannschaftsteile von Real Madrid und dem 1. FC Köln.
    Wir diskutierten, ob der ästhetische Genuss eines Stierkampfs höher als die Grausamkeit gegenüber den Stieren zu bewerten sei.
    Wir sangen einen Wanderlied-Klassiker: »Mein Vater war ein Wandersmann, und mir steckt’s auch im Blut, d’rum wand’re ich, so lang ich kann, und schwenke meinen Hut, Faleri, Falera, Faleri, Falerhahaha, Faleri, Falera, und schwenke meinen Hut.«
     
    |116| Wir überlegten, warum der Läufer beim Schach eigentlich Läufer und nicht Wanderer heißt. Die Bezeichnung »Läufer« hat sowieso etwas Herablassendes. Im Sinne von Laufbursche. Im englischen Sprachraum kommt dieser Figur wenigstens noch die ihm angemessene Würde zu. Dort heißt der »Läufer« »bishop«, um ganz genau zu sein, »queen‘s bishop« auf der einen und »king‘s bishop« auf der anderen Seite. Aber einfach nur Läufer?
    Ich bezweifelte ganz allgemein, ob das ständige Stretchen während des Wanderns sinnvoll ist. Ich deutete vorsichtig an, dass es leicht übertrieben sein könnte, dass Victor alle 600 Meter an jedem Weidenpfosten Halt machte und konzentriert und fachmännisch seine Beine dehnte.
     
    So schafften wir es nach Hochdorf. Die Gaststätte des Ortes hatte geschlossen. Aber nicht nur heute, sondern für immer. So war es übrigens bisher bei allen Gasthöfen gewesen, die auf der Wanderkarte eingezeichnet waren. Dagegen tauchte der »Lindenhof«, die wunderbare Gaststätte unseres Ex-LPG-Vorsitzenden, nirgends auf.
     
    Eine halbe Stunde später waren wir in Neckeroda. Dieser Ort bestach durch die Bundesstraße von Rudolstadt nach Weimar, an der wir 800 Meter entlanggehen mussten. Außerdem berichtete eine Tafel: »Beim großen Brand 1776 kam Goethe mit dem Herzog Karl August und der Schlauchspritze zum Löschen.« Fragt sich nur, was besser gelöscht hat, der Herzog oder die Schlauchspritze.
    Nach der Bundesstraße gingen wir auf einem ungefähr zwei Meter breiten, asphaltierten Weg, auf dem uns ständig Autos mit großer Geschwindigkeit entgegenkamen. |117| Wir hatten den Weg ein bisschen abgehakt nach dem

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