Gesammelte Wanderabenteuer
Motto: Goetheweg? – Sind wir halt auch mal gegangen.
Ich fühlte mich wanderkilometermäßig noch unbefriedigt und unterfordert. Victor schien am Ende seiner Kräfte zu sein. Meine Taktik war klar. Bei einem leckeren Bier in Großkochberg wollte ich ihn von noch weiteren acht Kilometern bis zur nächsten Bahnstation in Rudolstadt überzeugen. Doch schon kurz vor Großkochberg wiegelte er bereits ab: »Warte mal ab, die nächsten zwei Kilometer wollen auch erst einmal gegangen sein.« Wie Recht er haben sollte.
Nach einer Viertelstunde ging erst einmal ein kräftiger Regenschauer auf uns herab. Ich holte meinen Regenschirm heraus, aber er war so klein, dass es mir auf die nackten Arme regnete. Also ging ich mit angewinkelten Armen weiter. Victor verzichtete »wie ein Mann« auf Regenschutz. Wir kamen zum Luisenturm, der eine perfekte Aussicht über das Thüringer Land bietet. So stand es jedenfalls im Reiseführer. Aber wir hatten für heute genug Aussichten auf das Thüringer Land gehabt. Keine Zeit für den Luisenturm. Wir wollten nach Großkochberg, basta.
Es begann ein steiler Abstieg von der Hochebene. Der Weg führte 200 Höhenmeter abwärts über eine Graswiese. Ich bereute es mehr denn je, dass ich mich für die Wandersandalen entschieden hatte. Nach einigen Metern knickte ich bei einer unbedachten Bewegung um. Schon seit meiner Jugendzeit habe ich labile Bänder und bin schon so oft mit dem Fuß umgeknickt, dass es zu mehreren ordentlichen Bänderdehnungen gereicht hat. |118| Meine Wanderschuhe geben mir einen ungleich besseren Halt an den Knöcheln als die blöden Sandalen. Ich fühlte vorsichtig am Knöchel: Alles noch heil.
Keine 300 Meter weiter habe ich mich dann so richtig auf die Fresse gelegt, da meine Sandalen über so gut wie kein Profil mehr verfügen. Es muss ausgesehen haben wie in einem Tim-und-Struppi-Comic, wenn Käpt‘n Haddock auf einer Bananenschale ausrutscht. Einfach nach hinten weggerutscht. Mir bereiteten meine linke Hand, die rechte Gesäßbacke und mein rechtes Bein Höllenschmerzen. Für den weiteren Abstieg reichte mir Victor seine Wanderstöcke. Hatte er nicht ein leicht triumphierendes » Das-wäre-dir-mit-Stöcken-nicht-passiert-Lächeln« auf den Lippen? Ich legte den letzten Kilometer nach Großkochberg humpelnd zurück.
Im Eiscafé von Großkochberg ließen wir uns nieder. Wir bestellten zwei Saalfelder Pilsener und zwei Stück Mandel-Sahne-Torte. Die Torte war selbst gemacht und schmeckte großartig. Bekannte aus Weimar hatten uns vorher gesagt: »Das Schloss von Großkochberg, da müsst ihr unbedingt rein, das ist sen-sa-tio-nell.« Die Frau aus dem Eiscafé erklärte uns, dass wir das Charlotte von Stein’sche Schloss nicht besuchen könnten, da es montags geschlossen habe. Ihr gegenüber war unser Bedauern groß, aber insgeheim waren wir froh, von dieser kulturellen Pflichtveranstaltung befreit zu sein. Zwei zwölfjährige Mädchen gingen über die Dorfstraße. Sie spuckten im 90-Grad-Winkel über sich in die Luft und liefen dann vor ihrer eigenen Spucke weg. Das Großkochberger In-Spiel 2004: Lauf-vor-deiner-eigenen-Spucke-weg! |119| Danach zündeten sich die beiden eine Zigarette an.
Victor hat eine dicke Thüringer Wurst entdeckt
Ich war deprimiert und entnervt nach dem Sturz. Der Himmel wurde tiefschwarz, und leichtes Donnergrollen war zu hören. Ich beschloss, meine Wandertaktik noch einmal zu überdenken.
Plötzlich gab ich es als meine Idee aus, nicht mehr weiterwandern zu wollen. Ich überzeugte Victor von etwas, das er immer schon so gesehen hatte. Ich erklärte ihm, dass ich mich beim Wandern oft überschätzen würde. Nicht nur damals, als ich 50 Kilometer von Leopoldstal nach Bielefeld gegangen war. Das war zu viel gewesen und hatte mich eindeutig überfordert. Es würde mir ja auch immer schwer fallen aufzuhören, wenn es am schönsten ist. Wenn auf den letzten acht Kilometern |120| nach Rudolstadt noch etwas unglaublich Aufregendes bevorstünde, würde ich weitergehen. Aber vielleicht wäre das falscher Ehrgeiz. Der Weg war laut Kartenlage absolut trostlos. Noch trostloser als bisher. Das würde nichts mehr bringen. Und er solle sich mal den Himmel anschauen. Es würde gleich junge Hunde regnen, wie man so schön sagt. Victor nickte. War Goethe etwa weitergegangen? Nein!
Das Hotel »Elephant«: Thomas Mann auf dem Balkon und ich davor
Wir ließen uns mit einem Taxi von Großkochberg nach Weimar durch den mittlerweile strömenden
Weitere Kostenlose Bücher