Gesammelte Wanderabenteuer
während des Wanderns umherschauen. Es geht auf schmalsten Felsenpfaden oft 20 Meter steil bergab. Ein falscher Tritt, und man liegt unten. Deswegen: Wenn ein Kind sich umdrehen will, ins Tal schauen möchte oder sich mit jemandem unterhält, immer erst stehen bleiben.
Um kurz nach halb drei Uhr erreichten wir die Schmausemühle. Da es zu spät für die Mittagskarte war, bekamen wir die Vesperkarte. Für meine vegetarisch ausgerichtete Tochter Myriam gab es zwei vegetarische Gerichte zur Auswahl. Sie entschied sich für den Salatteller. Als der Teller kam, waren kunst- und liebevoll drapierte Schinkenscheiben das Zentrum der vegetarischen Speise. Aber die konnte man ja beiseite legen.
Im Sommer bin ich eher ein Schattensitzer. Aber im April setzten wir uns mitten in die Sonne, und der Geruch von Sonnenmilch holte den Duft des Sommers ins Baybachtal. In unseren Breiten, in den deutschen, schattigen Mittelgebirgen, wird bei fortschreitendem Klimawandel wohl die Zukunft des Sonnentourismus liegen. Während mediterrane Gebiete zur Sahel-Zone werden, wird der Hunsrück die Sonnenanbeter Europas mit moderaten Temperaturen locken.
Schon nach 15 Minuten war mir so heiß, dass ich das erste Mal in diesem Jahr meine Hosenbeine abnahm. Im |165| Mittelalter war das noch gang und gäbe, dass die Hosenbeine und vor allem die Ärmel abnehmbar waren. Man musste dann nur die Ärmel waschen, das Wams blieb so wie es war.
Meine Standardwanderhose ist eine Reißverschluss-Baumwollhose, die mir auch schon im Italienurlaub gute Dienste erwiesen hat. Mit kurzer Hose im Eiscafé sitzen, dann schnell die Hosenbeine wieder ran, und schon ist man korrekt gekleidet für die Kathedrale.
Von der Terrasse aus beobachteten wir, wie ein Wanderreiter versuchte, sein Pferd über eine Brücke zu ziehen. Gewalt und leichte Schläge mit dem Zügel halfen nichts, das junge Tier wollte nicht über die Holzbrücke.
Wir sahen uns das bestimmt eine halbe Stunde an. Es war ein scheußliches Gezerre und für uns als Reiter eine Qual. Irgendwann flehte Myriam mich an: »Papa, und wenn es das Letzte ist, was du für mich tust: Geh hin und biete deine Hilfe an.«
Da mein zweiter Vorname Pferdeflüsterer ist, ging das Pferd problemlos mit mir über die Brücke – okay: Wir mühten uns zu zweit mit dem widerspenstigen Klepper ab, schoben, zogen und fluchten. Irgendwann nahm der Reiter entnervt einen anderen Weg. Ich hatte es zumindest versucht.
Nach einer ungefähr anderthalbstündigen Pause in der Schmausenmühle setzten wir unsere Wanderung fort: Wir folgten dem B. Das B ist die Wandermarkierung des Baybachtals. Und acht Kilometer lang begleitete uns auch noch ein H für Hunsrückhöhenweg. Von Boppard am Rhein aus kann man bis zur Nahe auf dem |166| Hunsrückhöhenweg den gesamten Hunsrück durchqueren.
Ich war vor zwei Jahre einmal drei Tage auf dem Hunsrückhöhenweg gewandert. Um es kurz zu machen: Es war grauenhaft öde. Der Weg zieht sich, nachdem er das Baybachtal verlässt, über Dörfer und Felder und wieder Dörfer und Wälder und an Wiesen und Waldrändern Kilometer um Kilometer entlang. Es nimmt kein Ende. Und während es in jedem kleinsten Eifel-Dorf ein Gasthaus mit Fremdenzimmern gibt, ist der Hunsrück eine wandertouristische Einöde. Kaum eine größere Ortschaft hat eine Übernachtungsmöglichkeit.
Ich wäre vermutlich damals entkräftet im Hunsrück-Dorf Reifferscheidt verendet, hätte mich nicht der nette Koch des örtlichen Gasthauses gerettet. Eigentlich hatte ich in Kappeln übernachten wollen, aber dort gab es noch nicht einmal eine Kneipe. Ureinwohner von Kappeln schickten mich über den Berg nach Reifferscheidt: »Da sind Sie in zehn Minuten.«
Ich war aber nicht mit dem Auto unterwegs, sondern auf Schusters Rappen, und so dauerte die Strecke Kappeln-Reifferscheidt eine runde Stunde. Im Gasthaus in Reifferscheidt waren alle acht Fremdenzimmer belegt. Ich traute meine Ohren nicht. Wollten die mich verarschen? Ich hatte schon von Pensionen und Hotels gehört, die keine Wanderer aufnehmen, da diese nur eine Nacht bleiben und viel Dreck machen. Als ich insistierte, wurden mir fast lückenlose Biographien der Übernachtenden vorgelegt. Es waren drei spanische Fernfahrer und fünf Bauarbeiter auf Montage. Ich aß erst einmal. Als der |167| Koch Feierabend hatte, fuhr er mich netterweise ins Nachbardorf Blankenrath, wo es noch eine Übernachtungsmöglichkeit gab.
Für die nächste Tagesetappe war ich da
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