Gesammelte Wanderabenteuer
hätte. Dann lieber noch ein bisschen weiterhumpeln und leiden. Denn die seelischen Qualen einer abgebrochenen Wanderung würden noch schlimmer schmerzen als |259| die Blase und die Knie. Außerdem sollte die Straße noch auf absehbare Zeit gesperrt sein.
Wir zahlten, gingen los und stellten fest: Es hatte sich draußen nichts geändert. Es regnete immer noch, die Landschaft war immer noch öde, und die Forstwege, auf denen wir gingen, waren vereist. Wir vertrieben uns die Zeit mit Personen-Raten. Ein Spiel, bei dem man eine Person, fiktiv, real, lebend oder tot, mit Ja-Nein-Fragen erraten muss. Ich musste Hugo Chavez, Nofretete (habe ich lange dran geknabbert, da mir keine andere olle Ägypterin außer Kleopatra einfiel) und Haruki Murakami, den japanischen Schriftsteller, erraten. Victor musste J. F. Kennedy (hatte er sehr schnell raus), Margarete Steiff (hat schon länger gedauert) und Kommissar Hunter, den Polizisten aus den Micky-Maus-Heften, erraten. Über Kommissar Hunter gerieten wir in Streit. Na gut, wir haben uns im Wald angeschrien (war ja auch keiner da außer uns). Victor kannte Kommissar Hunter nicht. Er lese mit fast 40 Jahren keine Comics mehr. Ich lese auch keine Comics mehr, aber das gehört doch wohl zur Allgemeinbildung. Jeder aus unserer Generation kennt Kommissar Hunter. Oder die Panzerknacker, Tante Klarabella, Daniel Düsentrieb, die Nebenfiguren des disneyschen Universums, das sind doch alles Klassiker. Also wirklich, wie kann man Kommissar Hunter nicht kennen! Ich verzweifelte später an Jürgen Sparwasser. Welcher bekannte deutsche Spieler hat denn bei der WM 1974 gespielt und ist nicht Weltmeister geworden. Na eben!
Der Weg wurde übrigens immer netter. Wir gingen durch stockdunkle Fichtenwälder und landeten schließlich im Karlstal, das wohl zu einer anderen Jahreszeit besser besucht ist, was zumindest die vielen Bänke am Wegesrand vermuten ließen. Im Reiseführer hieß es, das Karlstal wäre das schönste |260| im Pfälzer Wald. Vermutlich stimmt das, denn selbst bei diesem Schmuddelwetter war das enge Tal, mit vielen Felsen und einem dahinplätschernden und teilweise zugefrorenen Bach, der absolute landschaftliche Höhepunkt unserer zweitägigen Wanderung.
Unsere Laune stieg mit jedem Kilometer, es hatte inzwischen aufgehört zu regnen, und um kurz nach fünf kamen wir im Naturfreundehaus Finsterbrunnertal an. Hinter der uns schon aus Elmstein bekannten naturfreundehaustypischen Theke putzte eine blond mit roten Strähnchen gefärbte Jugendliche eine Wurstschneidemaschine. Erst ignorierte sie uns, und als wir nachfragten, wies sie mit einem Schulterzucken auf einen Mann, der im Hintergrund telefonierte. Wir sagten laut Guten Abend, und der Mann unterbrach sein Gespräch. »Was Besonderes, nicht übernachten oder so?« – »Äh, eigentlich doch.« – »Seid ihr angemeldet?« – »Nein.« – »Ich schaue mal, was sich machen lässt, einen Moment.« Der freundliche Herr beendete das Telefonat und gab uns unseren Zimmerschlüssel. »Erster Stock, die Treppe hinauf.« Dort bezogen wir ein Zimmer mit zwei Etagenbetten, die Duschen befanden sich ein Stockwerk höher, das WC auf dem Gang gegenüber. Ich zog meine Schuhe aus, und lange betrachtete ich, was von meiner Ferse übrig geblieben war. Es sah aus wie eine Mischung aus Lepra und roher Ochsenkeule. Zwei Socken und die Schuheinlage waren durchgeblutet, die Haut hing in Fetzen herunter. »Mach ein Pflaster drauf«, schlug Victor vor. Toller Tipp, und wo hätte ich die Klebeseiten befestigen sollen? Auf dem rohen Fleisch? Für den Rest des Abends trug ich nur noch Socken, auch als wir hinunter in den Schankraum gingen. Dort trieb man uns zur Eile an. »Küche schließt um 18 Uhr!« Während es an anderen Orten erst ab 18 Uhr das Abendessen |261| gibt, war im Finsterbrunnertal dann schon Schluss. Ich bestellte mir ein paar Koschere für sagenhafte 2,50 Euro. Koschere heißen in der Pfalz reine Rindswürste. Aber Victor ließ es richtig krachen, und der Naturfreundeteller für 6,30 Euro hatte es in sich: eine Riesenbratwurst, ein Leberknödel (eine Art wabbelige Riesenfrikadelle) und eine dicke Scheibe Saumagen (das ist nicht wirklich der Magen von der Sau, sondern eine Art Fleischkäse im Schweinedarm mit Kartoffelstückchen dazwischen), dazu Sauerkraut. Dieser Teller war eine von Victors berühmten Mutproben. Normalerweise isst Victor (wie auch ich) kein Schweinefleisch, aber das hatte ihn doch zu sehr gereizt. Von dem
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