Gesammelte Wanderabenteuer
Stammland und Anhängsel.
Ich war früh am Morgen mit dem Zug und dem Bus ins Bergische Land in die Nähe von Much gefahren. Meine Mutter begleitete mich. Sie ist mit ihren fast 70 Jahren eine große Frischluftfanatikerin. An Wochenenden und in den Urlauben wird die Umgebung zu Fuß oder mit dem Fahrrad erkundet. Und während der Woche ist sie immer unterwegs, |267| wenn es ihre Zeit erlaubt. Häufig geht sie morgens ab 5.30 Uhr einen Rundweg durch den Kölner Vorort, in dem sie mit meinem Vater wohnt. Warum so früh? Sie möchte möglichst wieder zuhause sein, bevor die Hundebesitzer ihre morgendliche Gassi-Tour machen.
Der Bus mit der Nummer 575 hielt in Neverdorf (ein kleiner Sprengel in Neverland). Direkt an der Bushaltestelle kreuzt der Kurkölner Weg mit dem Kürzel X22 die Straße. Wir mussten nicht umständlich nach dem Weg suchen, sondern konnten sofort loswandern. Das gefiel mir, vor allem, da der X22 kein Hochglanzweg moderner Prägung ist und ich mich schon auf eher ungenügende Markierungen eingestellt hatte. Um es gleich zu sagen, der Sauerländische Gebirgsverein hatte den Weg vorbildlich gekennzeichnet, und wir hätten gut auf die Wanderkarte verzichten können.
Nach dem ersten Kilometer erreichten wir das Naafbachtal. Der Naafbach schlängelt sich durch ein breites Tal mit Wiesen und Weiden. Bis vor einigen Monaten hatte ich noch nie davon gehört. Dann sprach ich mit Kölner Wanderfreunden, die mir von dem unberührten Tal geheimnisvoll zuraunten. Als ich später ins Internet schaute, stellte ich fest, dass um das Tal jahrzehntelang gekämpft wurde. Viele Bäche im Bergischen Land sind gestaut worden, um genügend Wasser für die Großstadt bereitzustellen. 1973 hatten die Kölner den Plan gefasst, das Tal volllaufen zu lassen. Dagegen hat sich 1982 eine BI (Abkürzung für Bürgerinitiative, früher nannten wir das »’ne Bürgerinni«) »Naafbachtal« gegründet, die noch heute gegen die Überflutung kämpft, obwohl es mittlerweile nicht mehr danach aussieht. Auf der Internetseite des BUND las ich: »Wir möchten ausdrücklich betonen, dass das Naafbachtal gemäß § 48 LG NRW als Naturschutzgebiet eingetragen ist und unter |268| Natura 2000-Nr. De-5109-301 als FFH-Gebiet an die EU gemeldet wurde. Wir vertreten deshalb die Ansicht, dass auch bei erhaltenden Maßnahmen wie bei einer Wegsanierung oder Instandsetzung eine FFH-Verträglichkeitsprüfung durchzuführen ist.« Naturschutz ist hier knüppelharte Bürokratenarbeit, schließlich gilt es zu verhindern, dass breitere Wege angelegt werden.
Das Naafbachtal ist wirklich größtenteils naturbelassen, aber man muss wissen, dass man die Zivilisation immer spürt und sieht. Man sollte auf dieser Strecke schon Spaß an vielen Ortsdurchquerungen haben. Dort kann man dann beobachten, welche faszinierenden Möglichkeiten es gibt, Hausnummern, Briefkästen und Vorgartenlaternen in absolut geschmackssicheren Farben und Formen an Häuserfassaden anzubringen. Man muss außerdem auch vielbefahrene Landstraßen überqueren oder an ihnen ein Stück entlanggehen. Als Faustregel für Wanderungen durch Pendlergegenden wie das Bergische Land gilt: Eine halbe Stunde kann man ungestört laufen, dann kommt das nächste Stück Zivilisation.
In den schönen halben Stunden sichtete meine Mutter einen Graureiher und hatte auch einen Sperber gehört. Ich hätte den Sperber noch nicht mal erkannt, wenn ich ihn gesehen hätte, aber meine Mutter identifizierte ihn anhand seines Kreischens. Später gerieten wir in einen Schwarm Krähen. Und dann zeigte mir meine Mutter ganz aufgeregt einen Kleiber. »Kleiber? Nie gehört.« – »Aber das ist doch der Vogel des Jahres 2006.« – »Ach, echt? Wahnsinn!« – »Sein Markenzeichen ist es, sich senkrecht an Baumstämmen hinunterzustürzen.« An dem Baum, auf den meine Mutter zeigte, konnte ich Zweige, aber keinen Vogel des Jahres erkennen. Mir war vollkommen neu, dass meine Mutter eine |269| professionelle Ornithologin ist. Nur während einer mehrstündigen Wanderung gelingt es, solch neue Facetten an den eigenen Eltern zu entdecken, die man so gut zu kennen glaubt.
Nach dem Naafbachtal Nr. De-5109-301 durchquerten wir das kleine Dorf Kern und gingen dann zum Fluss Agger. Jetzt erspähte ich mein erstes Tier. Es war noch weit entfernt, und ich konnte nicht erkennen, ob es sich um ein Reh oder einen freilaufenden Hund handelte. Also bat ich meine Mutter, stehenzubleiben und sich nicht zu bewegen. Als
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