Gesammelte Wanderabenteuer
Frankenstein-und-sein-Monster-Buch schrieb. Die Geschichte war also gewandert – über zeitliche und räumliche Distanzen hinweg.
Mich gruselte auf unserer Wanderung nicht so sehr vor dem Frankenstein-Monster, viel mehr fürchtete ich mich vor dem |250| älteren Mann mit Nordic-Walking-Stöcken, der uns direkt hinter der Burgruine überholte. Der Mann ging eine Weile in Sichtweite voran, und wir folgten der lebenden Wandermarkierung. Bis er hinter einer Wegbiegung verschwand. Ratlos schauten wir uns um. Wir hatten den Weg verloren und wohl eine Markierung übersehen. Da mein zweiter Vorname »Orientierungssinn« ist, schlug ich vor, erst einmal Richtung Tal zu gehen. Da würden wir mit großer Sicherheit wieder auf unseren grün-blaugestreiften Wanderweg gelangen. Funktionierte leider nicht. Im Tal fanden wir keinerlei Hinweise mehr. Als Mittelgebirgswanderer ist man gewöhnt, an jeder Wegkreuzung Hinweisschildchen, Plättchen und Pfeile vorzufinden, anders im Pfälzer Wald. Wir gingen Kilometer um Kilometer und hofften an jeder neuen Weggabelung oder -kreuzung, endlich auf einen markierten Weg des Pfälzerwaldvereins zu stoßen. Aber alle Zeichen entpuppten sich beim Näherkommen als holzwirtschaftliche Hieroglyphen. In Neongelb und schreiend Orange hatten die Forstmeister Holzbesitzerkürzel und komplizierte Muster für die Waldarbeiter auf die Bäume gesprüht. Manches konnte nur als »Ab hier den ganzen Wald plattmachen« verstanden werden.
Kleinere Wandergebiete wie die Sächsische Schweiz funktionieren über die Qualität der Wege, der Pfälzer Wald besticht durch reine Quantität. Die aufkeimende Langeweile und Trostlosigkeit bekämpften Victor und ich, indem wir kleine Wurzelknoten zwischen uns hin und her kickten. Dabei brach immer mehr Geäst ab, bis das kleine Holzstück sich komplett aufgelöst hatte. Später liefen drei Rehe vor uns weg. Schnell waren sie verschwunden.
Anderthalb Stunden nach Sichtung der letzten Markierung machten wir eine Pause, der unsere letzten Vorräte an Wasser und Schokoriegeln zum Opfer fielen. Es war |251| lächerlich: Wir waren zu einem besseren Spaziergang von vielleicht zwölf Kilometern aufgebrochen und rannten nun orientierungslos umher. Obwohl, nicht ganz orientierungslos. Denn Victor erinnerte sich an eine alte Kompassregel. Die Sonne stand zwar schon sehr tief, war aber immer noch gut zu sehen. Mit Hilfe unserer Uhren konnten wir die Himmelsrichtungen bestimmen (mit einer Digitaluhr geht das natürlich nicht). Man richtet den kleinen Zeiger auf die Sonne. Der halbe Winkel zwischen kleinem Zeiger und der Zwölf zeigt dann die südliche Richtung an. Tja, wir alten Pfadfinder! Wir waren zwar beide nie bei den Pfadfindern gewesen, hatten aber unsere Jugend gemeinsam in der Katholischen Studierenden Jugend (so was Ähnliches) verbracht. Und daher waren wir bei unzähligen Zeltlagern und Nachtwanderungen für das Überleben in freier Natur gestählt worden.
|252| Genau in südlicher Richtung lag das Naturfreundehaus Elmstein. Nach meiner Berechnung konnten wir unser Ziel gar nicht verfehlen. Aber Victor las gerade eine Biographie über Ferdinand Magellan und lag mir in den Ohren, dass dieser auch wohlgemut mit 268 Leuten aufgebrochen war und davon nur 18 Mann nach Spanien zurückgekehrt waren. Wenn ich mir Victors körperliche und seelische Konstitution anschaute, wurde mir immer klarer, wer im Falle des Falles von uns beiden zu den Überlebenden zählen würde. Victor war einfach ein Pessimist. Wir würden die ganze Zeit im Kreis gehen, nörgelte er und wollte an jeder Wegkreuzung in die falsche, eher nördliche Richtung abbiegen. Er war der ungläubige Thomas, aber ich war überzeugt, ihn sicher ans Ziel zu führen. Schon bald überquerten wir eine Asphaltstraße und gingen auf einem parallel zur Straße geführten Wanderweg zum Waldhaus Schwarzsohl, bis ein rot-weißgestreiftes Flatterband den Weg versperrte. »Lebensgefahr« war in großen Buchstaben darauf zu lesen, »Waldarbeiten«. Ich hätte den Hinweis ignoriert, aber Victor fürchtete aufgebrachte und aggressive Forstarbeiter, sollten wir weitergehen. Also gingen wir zurück zur Asphaltstraße. Das Waldhaus hatte geschlossen. Danach zogen sich die Pfälzer Forstwege, öde und nervtötend, bis wir um fünf Uhr endlich das Naturfreundehaus Elmstein erreichten.
Wir wussten, dass wir am richtigen Haus angekommen waren, als wir das große Logo der Naturfreunde an der Fassade sahen. Unter drei roten
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