Gesammelte Werke 1
großen bleichen Lider hob und Michel geradewegs in die Seele schaute. Vielleicht sogar noch tiefer, ins Innerste jener Welt, in der das Geschöpf lebt, mit dem Michel seinen mentalen Raum teilen muss. Der Moment war unangenehm, aber auch beeindruckend. Kurz darauf verschwand Hexenmeister,
ohne auch nur ein Wort gesprochen zu haben. Und ohne sich zu verabschieden.
Susumu Hirota alias »Senrigan« - was so viel bedeutet wie »Der, der tausend Meilen weit sieht« -, 83 Jahre alt, Religionshistoriker, Professor am Lehrstuhl für Religionsgeschichte an der Universität Bangkok. Ein Gespräch mit ihm fand nicht statt, weil er erst morgen oder übermorgen wieder im Institut sein wird. Nach Haidais Meinung hat dieser Hellseher Hexenmeister auf das Äußerste missfallen. Es trifft aber zu, dass er während dieses Treffens abrupt aufbrach.
Nach den Worten aller Augenzeugen ereignete sich Folgendes: Gerade noch hatte Hexenmeister inmitten des mentoskopischen Kabinetts gestanden und dem Vortrag Haidais zugehört, der über die ungewöhnlichen Fähigkeiten »Senrigans« sprach. »Senrigan« unterbrach den Vortragenden von Zeit zu Zeit, um einmal mehr neue Einzelheiten aus dessen Privatleben preiszugeben. Und dann, plötzlich, wandte sich Hexenmeister ohne jede Vorwarnung und ohne ein Wort der Erklärung um, stieß dabei Borja Laptew mit dem Ellenbogen an und ging schnellen Schritts, ohne auch nur eine Sekunde lang innezuhalten, durch die Korridore zum Ausgang der Filiale. Ende.
Es gibt noch weitere Personen, die Hexenmeister in der Filiale gesehen haben: wissenschaftliche Mitarbeiter, Laboranten, Verwaltungspersonal. Von ihnen wusste niemand, wen er vor sich hatte. Nur zwei Neue im Institut schenkten Hexenmeister größere Aufmerksamkeit, weil sein Äußeres sie beeindruckte; etwas Wesentliches war von ihnen aber nicht zu erfahren.
Des Weiteren habe ich mich mit Boris Laptew getroffen. Hier der wichtigste Teil unseres Gesprächs:
ICH: Du bist der einzige Mensch, der die ganze Zeit über mit Hexenmeister zusammen gewesen ist, vom Abflug bis zur
Rückkehr auf den Saraksch. Ist dir nicht irgendetwas Merkwürdiges an ihm aufgefallen?
BORIS: Was für eine Frage! Das ist wie in der Geschichte, wo sie das Kamel fragen, warum es einen krummen Hals hat, und es antwortet: »Ja, ist denn irgendetwas an mir gerade?«
ICH: Versuch trotzdem, dir sein Verhalten in dieser Zeit genau in Erinnerung zu rufen. Irgendetwas muss doch passiert sein, dass er derart außer Fassung geriet!
BORIS: Hör zu, ich kenne Hexenmeister nun seit zwei Jahren. Er ist unergründlich. Ich habe längst aufgegeben und versuche es auch nicht mehr, ihn zu verstehen. Was also soll ich dir antworten? Er hatte an dem Tag einen Anfall von Depression, wie ich es nenne. Das überfällt ihn von Zeit zu Zeit ohne erkennbare Ursache. Dann wird er schweigsam, und wenn er den Mund aufmacht, dann nur, um irgendeine Gemeinheit, irgendetwas Boshaftes zu sagen. So war es auch an dem Tag. Während des Flugs stand noch alles zum Besten, er ließ Aphorismen hören, machte Witze über mich, sang sogar ein bisschen. Doch schon in Mirza-Charle wurde er finster; mit Logowenko hat er kaum gesprochen. Als wir mit Haidai durchs Institut gingen, wurde er noch finsterer. Ich fürchtete schon, gleich täte er jemandem etwas zu leide. Aber da spürte er wohl selbst, dass es so nicht weiterging und verschwand sicherheitshalber, bevor etwas passierte. Während des ganzen Flugs zum Saraksch schwieg er; nur in Mirza-Charle hatte er sich wie zum Abschied einmal umgedreht und mit einem fiesen dünnen Stimmchen gezischt: »Sieht die Berge und den Wald, sieht bis in den Himmel bald, nur die Mücke sieht er nicht, die ihn in die Nase sticht.«
ICH: Was bedeutet das?
BORIS: Kinderverse. Von früher.
ICH: Und wie hast du ihn verstanden?
BORIS: Gar nicht. Ich habe nur verstanden, dass er der ganzen Welt gram war. Es fehlte nicht viel, und er hätte gebissen. Ich habe verstanden, dass ich besser den Mund halte. Und so haben wir beide bis zum Saraksch geschwiegen.
ICH: Und das war alles?
BORIS: Ja, das war alles. Kurz vor der Landung hat er noch einmal so etwas Zusammenhangloses vor sich hin gemurmelt: Wir würden warten, bis die Blinden den Sehenden erblickten.
Als wir zur Blauen Schlange kamen, winkte er nur kurz und verschwand augenblicklich im Dschungel. Wohlgemerkt, er hat sich weder bedankt noch zu sich eingeladen.
ICH: Weiter kannst du nichts sagen?
BORIS: Was soll ich dir sagen? Ja,
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