Gesammelte Werke
erklärte, alle diese Unterscheidungen seien leider im Einheitsvertrag des Reichsvereins der Leichenbestattungsunternehmer vorgeschrieben, aber es hätte weiter auch keine Bedeutung, wenn man sich nicht an sie halte, und das täte ohnehin niemand, und wenn Ulrich unterschriebe die gnädige Frau Schwester habe das gestern ohne den Herrn Bruder nicht tun wollen –, so solle das einfach bedeuten, daß der Herr mit dem von seinem Vater gegebenen Auftrag einverstanden sei, und er werde an der erstklassigen Durchführung schon nichts auszusetzen finden.
Während Ulrich unterschrieb, fragte er den Mann, ob er hier in der Stadt schon eine der elektrisch betriebenen Wurstmaschinen gesehen habe, die auf dem Gehäuse den heiligen Lukas als Patron der Fleischhauerinnung zeigten; er selbst habe sie einmal in Brüssel gesehn – aber er kam nicht mehr dazu, die Antwort abzuwarten, denn schon stand an der Stelle dieses Mannes ein anderer da, der von ihm etwas wünschte, und war ein Journalist, der für das Provinzhauptblatt Auskünfte zum Nekrolog wollte. Ulrich gab sie und verabschiedete den Bestatter, aber sowie er auf die Frage nach dem Wichtigsten in seines Vaters Leben zu antworten begann, wußte er schon nicht, was wichtig sei und was nicht, und sein Besucher mußte ihm zu Hilfe kommen. Erst da ging es, angefaßt mit den Fragezangen einer beruflich auf das Wissenswerte geschulten Neugier, vorwärts, und Ulrich bekam ein Gefühl, als wohne er der Erschaffung der Welt bei. Der Journalist, ein junger Mann, fragte, ob der Tod des alten Herrn nach langem Leiden oder unerwartet gekommen sei, und als Ulrich zur Antwort gab, daß sein Vater bis zur letzten Woche seine Vorlesungen abgehalten habe, formte er daraus: in voller Arbeitsrüstigkeit und Frische. Dann flogen von dem Leben des alten Herrn die Späne davon bis auf ein paar Rippen und Knoten: Geboren in Protiwin im Jahre 1844, die und die Schulen besucht, ernannt zum ..., ernannt am ...; mit fünf Ernennungen und Auszeichnungen war das Wesentliche fast schon erschöpft. Eine Heirat dazwischen. Ein paar Bücher. Einmal beinahe Justizminister geworden; es scheiterte am Widerspruch von irgendeiner Seite. Der Journalist schrieb, Ulrich begutachtete es, es stimmte. Der Journalist war zufrieden, er hatte die nötige Zeilenzahl. Ulrich staunte über das kleine Häufchen Asche, das von einem Leben übrigbleibt. Der Journalist hatte für alle Auskünfte, die er empfing, sechs- und achtspännige Formeln bereit gehabt: großer Gelehrter, geöffneter Weltsinn, vorsichtigschöpferischer Politiker, universale Begabung und so weiter; es mußte schon geraume Zeit niemand gestorben sein, die Worte waren lange nicht benutzt und hungrig nach Anwendung gewesen. Ulrich überlegte; er hätte gerne über seinen Vater noch etwas Gutes gesagt, aber das Sichere hatte der Chronist, der jetzt sein Schreibzeug einpackte, schon erfragt, und der Rest war, als ob man den Inhalt eines Glases Wasser ohne das Glas in die Hand nehmen wollte.
Das Kommen und Gehn hatte inzwischen nachgelassen, denn von Agathe waren am vergangenen Tag alle Leute an ihren Bruder gewiesen worden und dieser Überschuß war nun vorbeigeströmt, und Ulrich blieb allein zurück, als sich der Reporter empfahl. Er war durch irgendetwas in eine erbitterte Stimmung geraten. Hatte sein Vater nicht recht gehabt, daß er die Säcke des Wissens schleppte und den Körnerhaufen des Wissens ein wenig umgrub und darüber hinaus sich einfach jenem Leben unterwarf, von dem er glaubte, daß es das mächtige sei!? Er dachte an seine Arbeit, die unberührt im Schreibtisch lag. Wahrscheinlich würde man von ihm nicht einmal sagen können wie von seinem Vater, daß er ein Umschaufler gewesen sei! Ulrich trat in das kleine Zimmer, worin der Tote aufgebahrt lag. Diese starre, geradwandige Zelle inmitten der unruhigen Betriebsamkeit, die ihr entsprang, war phantastisch unheimlich; steif wie ein Holzstückchen schwamm der Tote zwischen den Fluten der Geschäftigkeit, aber für Augenblicke konnte sich das Bild verkehren, dann erschien das Lebendige starr, und er schien in einer unheimlich ruhigen Bewegung zu gleiten. «Was kümmern den Reisenden» sagte er dann «die Städte, die an den Anlegestellen zurückbleiben: ich habe hier gewohnt und mich betragen, wie man es verlangte, aber nun fahre ich wieder!» ... Die Unsicherheit des Menschen, der zwischen den anderen etwas anderes will als sie, drückte Ulrichs Herz: er sah seinem Vater ins Gesicht. Vielleicht
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