Gesammelte Werke
Stillstand seines Denkens eine andere Erscheinung. Denn man kann hart sein, selbstsüchtig, bestrebt, gleichsam hinaus geprägt, und kann sich plötzlich als der gleiche Ulrich Soundso auch umgekehrt fühlen, eingesenkt, als ein selbstlos glückliches Wesen in einem unbeschreiblich empfindlichen und irgendwie auch selbstlosen Zustand aller umgebenden Dinge. Und er fragte sich «Wie lange ist es her, seit ich das zuletzt empfunden habe?» Zu seiner Überraschung waren es kaum mehr als vierundzwanzig Stunden. Die Stille, die Ulrich umgab, war erfrischend, und der Zustand, an den er sich erinnert sah, kam ihm nicht so ungewöhnlich vor wie sonst. «Wir alle sind ja Organismen», dachte er beschwichtigt «die sich in einer unfreundlichen Welt mit aller Kraft und Begierde gegeneinander durchsetzen müssen. Aber mit seinen Feinden und Opfern zusammen ist jeder doch auch Teilchen und Kind dieser Welt; ist vielleicht gar nicht so losgelöst von ihnen und selbständig, wie er sich das einbildet.» Und das vorausgesetzt, schien es ihm durchaus nicht unverständlich zu sein, daß zuweilen eine Ahnung von Einheit und Liebe aus der Welt aufsteigt, fast eine Gewißheit, es lasse die handgreifliche Notdurft des Lebens unter gewöhnlichen Umständen von dem ganzen Zusammenhang der Wesen nur die eine Hälfte erkennen. Das hatte nichts an sich, was einen mathematisch-naturwissenschaftlich und exakt fühlenden Menschen zu verletzen brauchte: Ulrich sah sich dadurch sogar an die Arbeit eines Psychologen erinnert, mit dem ihn persönliche Beziehungen verbanden: sie handelte davon, daß es zwei große, einander entgegengesetzte Vorstellungsgruppen gebe, von denen sich die eine auf dem Umfangenwerden vom Inhalt der Erlebnisse, die andere auf dem Umfangen aufbaue, und legte die Überzeugung nahe, daß sich ein solches «In etwas Darinsein» und «Etwas von außen Ansehn», ein «Konkav-» und «Konvexempfinden», ein «Raumhaft-» wie ein «Gegenständlichsein», eine «Einsicht» und eine «Anschauung» noch in so vielen anderen Erlebnisgegensätzen und ihren Sprachbildern wiederhole, daß man eine uralte Doppelform des menschlichen Erlebens dahinter vermuten dürfe. Es war keine von den strengen sachlichen Untersuchungen, sondern eine von den phantasiehaft etwas vorausschweifenden, die einem Anstoß ihr Entstehen verdanken, der außerhalb der täglichen wissenschaftlichen Tätigkeit Hegt, aber sie war in den Grundlagen fest und in den Schlüssen von großer Wahrscheinlichkeit, die sich auf eine hinter Urnebeln verborgene Einheit des Empfindens zu bewegten, aus deren mannigfach vertauschten Trümmern, wie nun Ulrich annahm, schließlich das heutige Verhalten entstanden sein konnte, das sich undeutlich um den Gegensatz einer männlichen und weiblichen Erlebensweise ordnet und von alten Träumen geheimnisvoll beschattet wird.
Hier suchte er sich – wörtlich so, wie man beim Abstieg über eine gefährliche Kletterstelle Seil und Mauerhaken gebraucht – zu sichern und begann eine weitere Überlegung:
«Die ältesten, für uns schon fast unverständlich dunklen Überlieferungen der Philosophie sprechen oft von einem männlichen und einem weiblichen ‹Prinzip›!» dachte er.
«Die Göttinnen, die es in den Urreligionen neben den Göttern gab, sind unserem Empfinden in Wahrheit nicht mehr erreichbar» dachte er. «Für uns wäre das Verhältnis zu diesen übermenschenstarken Weibern Masochismus!»
«Aber die Natur» dachte er «gibt dem Mann Saugwarzen und der Frau ein männliches Geschlechtsrudiment, ohne daß daraus zu schließen wäre, unsere Vorfahren seien Hermaphroditen gewesen. Auch seelisch werden sie also keine Zwitter gewesen sein. Und dann muß die doppelte Möglichkeit des gebenden und des nehmenden Sehens einmal von außen empfangen worden sein, als ein Doppelgesicht der Natur, und irgendwie ist alles das viel älter als der Unterschied der Geschlechter, die sich daraus später ihre seelische Kleidung ergänzt haben ...»
So dachte er, aber in der Folge geschah es, daß er sich an eine Einzelheit aus seiner Kindheit erinnerte, und er wurde durch sie abgelenkt, weil es ihm, was lange nicht vorgefallen war, Vergnügen bereitete sich zu erinnern. Es muß vorausgeschickt werden, daß sein Vater früher geritten war und auch Reitpferde besessen hatte, wovon der leere Stall an der Gartenmauer, den Ulrich bei seiner Ankunft zuerst gesehen hatte, heute noch Zeugnis ablegte. Wahrscheinlich war das die einzige adelige Neigung, die
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