Gesammelte Werke
von niederer Eitelkeit eingegebenen Irrtümer zu vergeben. Sobald man sehr leidet und schon bei lebendigem Leib das sachte Ausdennähtengehn der irdischen Hülle empfindet, ist man geneigt, zu verzeihn und um Verzeihung zu bitten; wenn es einem wieder besser geht, so nimmt man es aber zurück, denn der gesunde Körper hat von Natur etwas Unversöhnliches: beides mußte offenbar der alte Herr in den Wechselfällen des Befindens vor dem Tode kennen gelernt haben, und eines hatte ihm so berechtigt erscheinen müssen wie das andere. Ein solcher Zustand ist aber für einen angesehenen Juristen unerträglich, und so hatte er mit geschulter Logik ein Mittel erfunden, seinen Willen so zu hinterlassen, daß er ohne nachträgliche Gegeneinflüsterungen des Gemüts als letzter Wille ungemindert zur Geltung kommen könne: er schrieb einen Verzeihungsbrief und unterschrieb ihn nicht, noch versah er ihn mit einem Datum, sondern trug Ulrich auf, das Datum seiner Todesstunde einzusetzen und die Unterschrift gemeinsam mit der Schwester als Willenszeugen zu setzen, wie es bei einem mündlichen Vermächtnis geschehen kann, das zu unterschreiben der Sterbende nicht die Kraft hat. Er war eigentlich, ohne es wahrhaben zu wollen, ein stiller Kauz, dieser kleine Alte, der sich den Rangordnungen des Daseins unterworfen hatte und sie als ihr eifriger Diener verteidigte, aber in sich allerhand Auflehnungen barg,für die er auf dem von ihm gewählten Lebenswege keinen Ausdruck finden konnte. Ulrich mußte an die Todesanzeige denken, die er empfangen hatte und die wahrscheinlich in der gleichen Verfassung angeordnet worden war, ja beinahe sah er eine Verwandtschaft mit sich selbst darin, diesmal aber nicht zornmütig, sondern mitleidig, wenigstens in dem Sinn, daß er angesichts dieses Ausdruckshungers den Haß auf den Sohn verstand, der sich das Leben durch ungebührliche Freiheiten erleichtert hatte. Denn so erscheinen die Lebenslösungen der Söhne immer den Vätern, und Ulrich wandelte ein Gefühl der Pietät an, indem er an das Ungelöste dachte, das in ihm selbst stak. Aber er fand nicht mehr die Zeit, dem eine gerechte und auch für Agathe verständliche Form zu geben, und hatte eben erst damit begonnen, als die Dämmerung des Raums mit großem Schwung einen Menschen ins Zimmer trug. Dieser schritt, von seiner eigenen Bewegung hereingeschleudert, bis in den Kerzenglanz und hob dort mit einer weiten Bewegung die Hand vor die Augen, einen Schritt von dem Katafalk entfernt, ehe der überrannte väterliche Diener mit der Anmeldung nachhasten konnte. «Verehrter Freund!» rief der Besucher mit getragener Stimme aus, und der kleine Alte lag mit zusammengekniffenen Kiefern vor seinem Feinde Schwung.
«Junge Freunde: die Majestät des Sternenhimmels über uns, die Majestät des Sittengesetzes in uns!» fuhr dieser fort und blickte umflorten Auges auf den Fakultätsgenossen. «In dieser kaltgewordenen Brust hat die Majestät des Sittengesetzes gelebt!» Dann erst wendete er seinen Körper um und schüttelte den Geschwistern die Hände.
Aber Ulrich benutzte diese erste Gelegenheit, um sich seines Auftrags zu entledigen. «Herr Hofrat und mein Vater sind leider in der letzten Zeit Gegner gewesen?» fühlte er vor.
Es machte den Eindruck, daß sich der Weißbart erst besinnen müsse, ehe er verstehe. «Meinungsverschiedenheiten und nicht der Rede wert!» erwiderte er großmütig, den Toten innig betrachtend. Als aber Ulrich höflich beharrte und durchblicken ließ, daß es sich um einen Letzten Willen handle, wurde die Lage in dem Zimmer plötzlich gespannt wie in einer Spelunke, wenn das ganze Lokal weiß: jetzt hat einer unter dem Tisch das Messer gezogen, und im nächsten Augenblick wird es losgehn. Der Alte hatte es also richtig verstanden, seinem Kollegen Schwung noch im Abscheiden eine Unannehmlichkeit zu bereiten! Eine solche alte Feindschaft war natürlich längst kein Gefühl mehr, sondern eine Denkgewohnheit; wenn nicht irgend etwas die Affekte der Feindseligkeit gerade neu aufreizte, so waren sie gar nicht mehr da, und es hatte sich der gesammelte Inhalt zahlloser vergangener unliebsamer Vorgänge in die Form eines geringschätzigen Urteils über einander geballt, das so unabhängig vom Kommen und Gehen der Gefühle war wie eine vorurteilslose Wahrheit. Professor Schwung empfand das genau ebenso, wie es sein jetzt toter Angreifer empfunden hatte; es erschien ihm vollkommen kindisch und überflüssig zu verzeihen, denn die eine
Weitere Kostenlose Bücher