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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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war alles, was er für seine persönliche Besonderheit hielt, nichts ah ein von diesem Gesicht abhängiger Widerspruch, irgendwann kindisch erworben? Er suchte nach einem Spiegel, aber es war keiner da, und nichts als dieses blinde Gesicht warf Licht zurück. Er forschte darin nach Ähnlichkeiten. Vielleicht waren sie da. Vielleicht war alles darin, die Rasse, die Gebundenheit, das Nichtpersönliche, der Strom des Erbgangs, in dem man nur eine Kräuselung ist, die Einschränkung, Entmutigung, das ewige Wiederholen und im Kreis Gehen des Geistes, das er im tiefsten Lebenswillen haßte!
    Von dieser Entmutigung plötzlich angewandelt, überlegte er, ob er nicht seine Koffer packen und schon vor dem Begräbnis abreisen solle. Wenn er wirklich noch etwas im Leben bestellen könnte, was hatte er dann noch hier zu tun!
    Als er aber durch die Türe trat, stieß er im Nebenzimmer mit seiner Schwester zusammen, die ihn zu suchen kam.
    [◁]
4
    Ich hatt’ einen Kameraden
    Zum erstenmal sah sie Ulrich als Frau gekleidet und hatte nach dem gestrigen Eindruck geradezu den, daß sie verkleidet sei. Durch die offene Tür fiel künstliches Licht in das zittrige Grau des frühen Vormittags, und die schwarze Erscheinung mit dem blonden Haar schien in einer Grotte aus Luft zu stehn, durch die strahlender Glanz floß. Agathes Haar lag enger am Kopf und ihr Gesicht wirkte dadurch weiblicher als am Tag zuvor, die zarte, frauenhafte Brust bettete sich in das Schwarz der strengen Kleidung mit jenem vollkommensten Gleichgewicht zwischen Nachgiebigkeit und Widerstand, das der federleichten Härte einer Perle eigen ist, und vor die schlanken, hohen, den seinen ähnlichen Beine, die er gestern gesehen hatte, hatten sich Röcke gesenkt. Und weil die Erscheinung ihm heute im Ganzen unähnlicher war, bemerkte er die Ähnlichkeit des Gesichts. Es war ihm zumute, er wäre es selbst, der da zur Tür eingetreten sei und auf ihn zuschreite: nur schöner als er und in einen Glanz versenkt, in dem er sich niemals sah. Zum erstenmal erfaßte ihn da der Gedanke, daß seine Schwester eine traumhafte Wiederholung und Veränderung seiner selbst sei; aber da dieser Eindruck nur einen Augenblick dauerte, vergaß er ihn wieder.
    Agathe war gekommen, um ihren Bruder schleunig an Pflichten zu erinnern, die sie selbst beinahe verschlafen hätte: sie hielt das Testament in Händen und machte ihn auf Bestimmungen aufmerksam, deren Zeit drängte. Vor allen war darunter eine etwas krause Verfügung über die Orden des alten Herrn zu berücksichtigen, von der auch der Diener Franz wußte, und Agathe hatte diese Stelle im Letzten Willen eifrig, wenn auch etwas pietätlos rot angestrichen. Der Tote wollte mit ihnen begraben sein, von denen er nicht wenig besaß, aber da er nicht aus Eitelkeit mit ihnen begraben werden wollte, war dem eine lange und tiefsinnige Begründung beigegeben, von der seine Tochter nur den Anfang gelesen hatte, ihrem Bruder es überlassend, ihr den Rest zu erklären.
    «Wie soll ich es dir erklären?!» sagte Ulrich, nachdem er sich unterrichtet hatte. «Papa möchte mit den Orden begraben werden, weil er die individualistische Staatstheorie für falsch hält! Er empfiehlt uns die universalistische. Der Mensch empfange erst aus der schöpferischen Gemeinschaft des Staats einen überpersönlichen Zweck, seine Güte und Gerechtigkeit; allein sei er nichts, und darum bedeute der Monarch ein geistiges Symbol: und kurz und gut, der Mensch muß sich bei seinem Tod sozusagen in seine Orden einwickeln, wie man einen gestorbenen Seemann in die Flagge gewickelt ins Meer versenkt!»
    «Aber ich habe doch gelesen, daß die Orden zurückgegeben werden müssen?» fragte Agathe.
    «Die Orden müssen von den Erben der kaiserlichen Kabinettskanzlei zurückgestellt werden. Darum hat sich Papa Duplikate angeschafft. Aber die beim Juwelier gekauften scheinen ihm wohl doch nicht die rechten Orden zu sein, und er will, daß wir den Umtausch auf seiner Brust erst vollziehen, wenn der Sarg geschlossen wird: das ist die Schwierigkeit! Wer weiß, vielleicht ist das ein stummer Protest gegen die Vorschrift, den er nicht anders aussprechen wollte.»
    «Aber bis dahin werden hundert Leute hier sein, und wir werden es vergessen!» befürchtete Agathe.
    «Wir können es ebensogut gleich tun!»
    «Wir haben jetzt keine Zeit; du mußt das Nächste lesen, was er über Professor Schwung schreibt: Professor Schwung kann jeden Augenblick kommen, ich habe ihn schon gestern den ganzen

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