Gesammelte Werke
jungen Schwester nicht unberechtigterweise zuweilen auf Ulrich einen ähnlichen Eindruck, wie es die Fragen eines Kindes tun, die so warm sind wie die kleinen Hände dieses hilflosen Wesens.
Seine eigenen Antworten hatten eine andere, für ihn aber nicht weniger bezeichnende Art: er gab allemal gern etwas von der Ausbeute seines Lebens und Nachdenkens darauf zum besten, und wie es seiner Gewohnheit entsprach, drückte er sich in einer ebenso offenen wie geistig unternehmenden Art aus. Er kam immer bald auf «die Moral der Geschichte» zu sprechen, von der seine Schwester erzählte, faßte in Formeln zusammen, nahm sich gern selbst zum Vergleich und berichtete auf diese Weise Agathe viel von sich, namentlich aus seinem bewegteren, früheren Leben. Agathe erzählte ihm nichts von sich, aber sie bewunderte an ihm die Fähigkeit, so von seinem Leben sprechen zu können, und daß er alle ihre Anregungen in moralische Betrachtung zog, war ihr gerade recht. Denn Moral ist nichts anderes als eine Ordnung der Seele und der Dinge, beide umfassend, und so ist es nicht sonderbar, daß junge Menschen, deren Lebenswille noch allseitig unabgestumpft ist, viel von ihr reden. Eher war bei einem Mann von Ulrichs Alter und Erfahrung eine Erklärung nötig; denn Männer sprechen von Moral nur beruflich, wenn es zu ihrer Amtssprache gehört, sonst aber ist das Wort bei ihnen schon von den Tätigkeiten des Lebens eingeschluckt worden und kommt nicht mehr frei. Wenn Ulrich von Moral sprach, bedeutete es darum eine tiefe Unordnung, die Agathe gleichgestimmt anzog. Sie schämte sich jetzt ihres etwas einfältigen Bekenntnisses, daß sie «ganz einverstanden mit sich selbst» leben wolle, denn sie hörte ja, welche verwickelten Bedingungen sich davorstellten, und doch wünschte sie ungeduldig, daß ihr Bruder rascher zu einem Ergebnis käme, denn oft schien ihr, daß sich alles, was er sage, gerade dahin bewege, ja sogar jedesmal gegen Ende immer genauer, und erst mit dem letzten Schritt vor der Schwelle haltmache, wo er das Unternehmen jedesmal aufgab.
Der Ort dieser Wendung und dieser letzten Schritte, dessen lähmende Wirkung auch Ulrich nicht entging, läßt sich aber am allgemeinsten dadurch bezeichnen, daß jeder Satz der europäischen Moral auf einen solchen Punkt führt, wo es nicht weitergeht; so daß ein Mensch, der von sich Rechenschaft gibt, zuerst die Gebärden eines Watens im Seichten hat, solange er feste Überzeugungen unter sich fühlt, plötzlich aber die des schrecklichen Ertrinkens, wenn er etwas weiter geht, als versänke der Boden des Lebens vom Seichten unmittelbar in eine ganz unsichere Tiefe. Das drückte sich auch äußerlich an den Geschwistern in einer bestimmten Weise aus: Ulrich konnte ruhig und erklärend über alles sprechen, was er zunächst vorbrachte, solange er mit Verstand daran teilnahm, und einen ähnlichen Eifer fühlte Agathe im Zuhören; aber dann, wenn sie aufhörten und schwiegen, kam eine viel aufgeregtere Spannung in ihre Gesichter. Und so geschah es einmal, daß sie über die Grenze hinausgeführt wurden, an der sie bis dahin unbewußt eingehalten hatten. Ulrich hatte behauptet: «Das einzige gründliche Kennzeichen unserer Moral ist es, daß sich ihre Gebote widersprechen. Der moralischeste von allen Sätzen ist der: die Ausnahme bestätigt die Regel!» Wahrscheinlich hatte ihn dazu bloß die Abneigung gegen ein moralisches Verfahren bewogen, das sich unbeugsam gibt und in der Ausführung jeder Beugung nachgeben muß, wodurch es sich gerade im Gegensatz zu einem genauen Vorgehen befindet, das zuerst auf die Erfahrung achtet und das Gesetz aus ihrer Beobachtung gewinnt. Er kannte natürlich den Unterschied, der zwischen Natur- und Sittengesetzen so gemacht wird, daß man die einen der sittenlosen Natur ablese, die anderen aber der weniger hartnäckigen Menschennatur auferlegen müsse; doch war er der Meinung, daß irgendetwas an dieser Trennung heute nicht mehr stimme, und hatte gerade sagen wollen, daß sich die Moral dabei in einem um hundert Jahre verspäteten Denkzustand befinde, weshalb sie den veränderten Bedürfnissen so schwer anzupassen sei. Ehe er jedoch in seiner Erklärung so weit gekommen war, unterbrach ihn Agathe mit einer Antwort, die sehr einfach erschien, ihn aber im Augenblick verblüffte.
«Ist Gutsein denn nicht gut?» fragte sie ihren Bruder und hatte etwas Ähnliches in den Augen wie damals, als sie mit den Orden etwas tat, das wahrscheinlich nicht nach jedermanns
Weitere Kostenlose Bücher