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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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langsam: «Da, siehst du, stimmt etwas nicht; an dieser Grenze zwischen dem, was in uns vorgeht, und dem, was außen vorgeht, fehlt heute irgendeine Vermittlung, das gestaltet sich nur mit ungeheuren Verlusten ineinander um: Fast könnte man sagen, unsere bösen Wünsche seien die Schattenseite des Lebens, das wir wirklich führen, und das Leben, das wir wirklich fuhren, sei die Schattenseite unserer guten Wünsche. Stell dir bloß vor, du tätest es wirklich: es wäre gar nicht das, was du gemeint hast, und du würdest zumindest furchtbar enttäuscht sein ...»
    «Ich könnte vielleicht plötzlich ein anderer Mensch sein: das hast du doch selbst zugegeben!» unterbrach ihn Agathe.
    Als Ulrich in diesem Augenblick zur Seite schaute, sah er sich daran erinnert, daß sie nicht allein waren, sondern zwei Menschen ihrem Gespräch zuhorchten. Die alte Häuslerin – sie mochte übrigens kaum mehr als vierzig Jahre zählen und wurde bloß durch ihre Lumpen und die Spuren ihres demütigen Lebens älter gemacht – hatte sich freundlich neben dem Herd niedergelassen, und neben sie hatte sich der Schäfer gesetzt, der während des Gesprächs in seiner Hütte eingekehrt war, ohne daß die so lebhaft mit sich selbst beschäftigten Gäste ihn bemerkt hatten. Diese beiden Alten ließen ihre Hände auf den Knien ruhn und hörten, wie’s schien, geschmeichelt und staunend der Unterhaltung zu, die ihre Hütte erfüllte, sehr befriedigt von einem solchen Gespräch, wenn sie es auch nicht mit einem einzigen Wort verstanden. Sie sahen, daß die Milch nicht getrunken, die Wurst nicht gegessen wurde, es war ein Schauspiel, und wer weiß, ein erhebendes. Sie flüsterten nicht einmal miteinander. Ulrichs Blick tauchte in ihre geöffneten Augen, und aus Verlegenheit lächelte er ihnen zu, was von den beiden nur die Frau erwiderte, während der Mann in ehrerbietigem Abstand ernst verharrte.
    «Wir müssen essen!» sagte Ulrich in englischer Sprache zu seiner Schwester. «Man wundert sich über uns!»
    Gehorsam rührte sie ein wenig an Brot und Fleisch, und er selbst aß entschlossen und trank sogar ein wenig von der Milch. Dabei sagte Agathe aber laut und unbefangen: «Die Vorstellung, ihm ernsthaft weh zu tun, ist mir unangenehm, wenn ich mich richtig befrage. Ich möchte ihn also vielleicht nicht umbringen. Aber auslöschen möchte ich ihn! In kleine Stücke zerreißen, sie in einem Mörser zerstampfen und den Staub ins Wasser schütten: das möchte ich! Ganz und gar alles Gewesene vernichten!»
    «Weißt du, es ist etwas komisch, was wir da reden» bemerkte Ulrich.
    Agathe schwieg eine Weile. Dann sagte sie aber: «Du hast mir doch am ersten Tag versprochen, daß du mir gegen Hagauer beistehen wirst!»
    «Natürlich werde ich das tun. Aber doch nicht so.»
    Wieder schwieg Agathe. Dann sagte sie plötzlich: «Wenn du ein Auto kaufen oder mieten möchtest, könnten wir über Iglau zu mir fahren und auf der weiteren Strecke, ich glaube über Tabor, zurück. Kein Mensch käme auf den Einfall, daß wir nachts dort waren.»
    «Und die Hausangestellten? Zum Glück kann ich überhaupt nicht einen Wagen bedienen!» Ulrich lachte, aber dann schüttelte er unwillig den Kopf: «Das sind so Ideen von heute!»
    «Ja, das sagst du» meinte Agathe. Sie schob nachdenklich mit dem Fingernagel ein Stück Speck hin und her, und es sah aus, als ob dieser Fingernagel das ganz allein täte, der einen kleinen öligen Fleck davon bekommen hatte. «Aber du sagst doch auch: die Tugenden der Gesellschaft sind Laster für den Heiligen!»
    «Nur habe ich nicht gesagt, daß die Laster der Gesellschaft für den Heiligen Tugenden sind!» stellte Ulrich richtig. Er lachte, fing Agathens Hand und putzte sie mit seinem Taschentuch.
    «Du nimmst eben immer alles wieder zurück!» schalt Agathe und lächelte unzufrieden, während ihr das Blut ins Gesicht stieg, denn sie suchte ihren Finger zu befreien.
    Die beiden Alten am Herd, die noch immer genau so zusahen wie bisher, lächelten jetzt als Echo über das ganze Gesicht.
    «Wenn du so mit mir hin und her redest,» stieß Agathe leise hervor «ist mir, als sähe ich mich in den Scherben eines Spiegels: man erblickt sich bei dir nie in ganzer Figur!»
    «Nein,» erwiderte Ulrich, der ihre Hand nicht losließ «man erblickt sich heute nicht in ganzer Figur, und man bewegt sich nie in ganzer Figur: das ist es eben!»
    Agathe gab nach und ließ plötzlich von ihrem Arm ab. «Ich bin gewiß das Gegenteil von heilig» erklärte

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