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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Urteil gut gewesen wäre. «Du hast recht» erwiderte er. belebt. «Man muß wahrhaftig erst einen solchen Satz bilden, wenn man den ursprünglichen Sinn wieder fühlen will! Aber Kinder lieben das Gutsein noch wie Leckerei –»
    «Übrigens auch das Bösesein» ergänzte Agathe.
    «Aber gehört Gutsein zu den Leidenschaften Erwachsener?» fragte Ulrich. «Es gehört zu ihren Grundsätzen! Sie sind nicht gut, das käme ihnen kindisch vor, sondern handeln gut; ein guter Mensch ist einer, der gute Grundsätze hat und gute Werke tut: es ist ein offenes Geheimnis, daß er dabei der größte Ekel sein kann!»
    «Siehe Hagauer» ergänzte Agathe.
    «Es steckt eine paradoxe Sinnlosigkeit in diesen guten Menschen» meinte Ulrich. «Sie machen aus einem Zustand eine Forderung, aus einer Gnade eine Norm, aus einem Sein ein Ziel! In dieser Familie der Guten gibt es lebenslang nur Reste zu essen, und dazu geht das Gerücht um, daß einmal ein Festtag gewesen sei, von dem sie herrühren! Gewiß, von Zeit zu Zeit werden ein paar Tugenden von neuem Mode, aber sobald das geschehen ist, verlieren sie auch schon wieder die Frische.»
    «Du hast einmal gesagt, daß die gleiche Handlung gut oder bös sein kann, je nach dem Zusammenhang?» fragte nun Agathe.
    Ulrich stimmte zu. Das war seine Theorie, daß die moralischen Werte nicht absolute Größen, sondern Funktionsbegriffe seien. Wenn wir aber moralisieren und verallgemeinern, so lösen wir sie aus ihrem natürlichen Ganzen: «Und wahrscheinlich ist schon das die Stelle, wo etwas auf dem Weg zur Tugend nicht in Ordnung ist» sagte er.
    «Wie könnten auch sonst moralische Menschen so langweilig sein,» ergänzte Agathe «während doch ihre Absicht, gut zu sein, das Entzückendste, Schwierigste und Kurzweiligste sein müßte, was man sich nur vorstellen kann!»
    Ihr Bruder schwankte; aber plötzlich ließ er sich die Behauptung entschlüpfen, durch die er und sie bald in ungewöhnliche Beziehungen gerieten. «Unsere Moral» erklärte er «ist die Auskristallisation einer inneren Bewegung, die von ihr völlig verschieden ist! Von allem, was wir sagen, stimmt überhaupt nichts! Nimm irgendeinen Satz, mir ist gerade der eingefallen: ‹In einem Gefängnis soll Reue herrschen!› Es ist ein Satz, den man mit bestem Gewissen sagen kann; aber niemand nimmt ihn wörtlich, denn sonst käme man zum Höllenfeuer für die Eingekerkerten! Wie nimmt man ihn also dann? Sicher wissen wenige, was Reue ist, aber jeder sägt, wo sie herrschen soll. Oder denk bloß, etwas erhebt dich: woher ist denn das in die Moral geflogen? Wann sind wir so mit dem Gesicht im Staub gelegen, das es uns beseligte, erhoben zu werden? Oder nimm es wörtlich, daß dich ein Gedanke ergreift: im Augenblick, wo du diese Begegnung so körperlich spürtest, wärst du schon in den Grenzen des Irrenreichs! Und so will jedes Wort wörtlich genommen werden, sonst verwest es zur Lüge, aber man darf keines wörtlich nehmen, sonst wird die Welt ein Tollhaus! Irgendein großer Rausch steigt als dunkle Erinnerung daraus auf, und man kommt zuweilen auf den Gedanken, daß alles, was wir erleben, losgerissene und zerstörte Teile eines alten Ganzen sind, die man einmal falsch ergänzt hat.»
    Das Gespräch, worin diese Bemerkung fiel, fand im Bibliotheks- und Arbeitszimmer statt, und während Ulrich vor einigen Werken saß, die er auf die Reise mitgenommen hatte, durchstöberte seine Schwester den juridischen und philosophischen Büchernachlaß, dessen Miterbin sie geworden war, und holte sich daraus zum Teil die Anregung zu ihren Fragen. Seit ihrem Ausflug hatten die Geschwister das Haus selten verlassen. Sie beschäftigten sich auf diese Weise. Zuweilen gingen sie im Garten spazieren, von dessen nacktem Gesträuch der Winter die Blätter geschält hatte; so daß überall darunter die von der Nässe aufgedunsene Erde zutage trat. Dieser Anblick war quälend. Die Luft war blaß wie etwas, das lange in Wasser gelegen hat. Der Garten war nicht groß. Die Wege liefen nach kurzem in sich selbst zurück. Der Zustand, in den die beiden auf diesen Wegen gerieten, trieb im Kreis, wie es eine Strömung vor einer Sperre tut, an der sie hochsteigt. Wenn sie ins Haus zurückkehrten, waren die Wohnzimmer dunkel und geschützt, und die Fenster glichen tiefen Lichtschächten, durch die der Tag so zart und starr hereinkam, als bestünde er aus dünnem Elfenbein. Agathe war jetzt, nach dem letzten, lebhaften Ausruf Ulrichs, von der Bücherleiter, auf der

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