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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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sie leise. «Ärger als eine Bezahlte bin ich vielleicht in meiner Gleichgültigkeit gewesen. Ich bin gewiß auch nicht unternehmungssüchtig und werde vielleicht niemand umbringen können. Aber wie du das von dem Heiligen zum erstenmal gesagt hast, es ist schon recht eine Weile her, da habe ich etwas ‹in ganzer Figur› gesehn ...!» Sie senkte den Kopf, um nachzudenken oder sich nicht ins Gesicht schauen zu lassen. «Ich habe einen Heiligen gesehn, der ist vielleicht auf einem Brunnen gestanden. Um die Wahrheit zu sagen, ich habe vielleicht gar nichts gesehn, aber ich habe etwas gefühlt, das man so ausdrücken müßte. Das Wasser ist geflossen, und was der Heilige tat, kam auch über den Rand geflossen, als wäre er ein nach allen Richtungen sacht überströmendes Brunnenbecken. So, denke ich, müßte man sein, dann täte man immer recht, und es wäre doch völlig gleichgültig, was man täte.»
    «Agathe sieht sich in heiliger Überfülle und zitternd ob ihrer Sünden in der Welt stehn und bemerkt ungläubig, daß sich ihr die Schlangen und Nashorne, Berge und Schluchten still und noch viel kleiner, als sie es selbst ist, zu Füßen legen. Aber was ist dann mit Hagauer?» neckte Ulrich leise.
    «Das ist es eben. Der kann nicht dabei sein. Der muß fort.»
    «Ich werde dir auch etwas erzählen» sagte ihr Bruder. «Jedesmal wenn ich an etwas Gemeinsamem, irgendeiner rechten Menschenangelegenheit habe teilnehmen müssen, ist es mir ergangen wie einem Mann, der vor dem letzten Akt aus dem Theater tritt, um einen Augenblick Luft zu schöpfen, die große dunkle Leere mit den vielen Sternen sieht und Hut, Rock, Aufführung zurückläßt, um davonzugehn.»
    Agathe sah ihn forschend an. Das paßte als Antwort und paßte nicht.
    Ulrich sah auch in ihr Gesicht. «Dich plagt auch oft eine Abneigung, zu der es die Neigung noch nicht gibt» sagte er und dachte: «Ist sie mir wirklich ähnlich?» Wieder kam ihm vor: vielleicht so wie ein Pastell einem Holzschnitt. Er hielt sich für den Festeren. Und sie war schöner als er. So angenehm schön. Er griff jetzt vom Finger nach ihrer ganzen Hand; es war eine warme, lange Hand voll Leben, und bisher hatte er sie nur zur Begrüßung in der seinen gehalten. Seine junge Schwester war aufgeregt, und wenn ihr auch nicht gerade Tränen in den Augen standen, so war doch feuchte Luft darin. «In wenigen Tagen wirst du auch von mir fortgehn,» sagte sie «und wie soll ich dann mit allem fertig werden?!»
    «Wir können ja zusammenbleiben, du kannst mir nachkommen.»
    «Wie stellst du dir das vor?» fragte Agathe und hatte ihre kleine Denkfalte auf der Stirn.
    «Nun, noch gar nicht stelle ich es mir vor; es ist mir doch soeben erst eingefallen.» Er stand auf und gab den Schäfersleuten noch ein Stück Geld, «für den zerschnittenen Tisch.» Agathe sah durch eine Wolke die Bauern grinsen, nicken und irgend etwas Freudiges in kurzen, unverständlichen Worten beteuern. Als sie an ihnen vorbeikam, fühlte sie die vier gastfreundlichen Augen nackt und gerührt auf ihrem Gesicht und begriff, daß sie für ein Liebespaar gehalten worden seien, das sich gezankt und wieder versöhnt hatte. «Sie haben uns für ein Liebespaar gehalten!» sagte sie. Übermütig schob sie ihren Arm in den ihres Bruders, und ihre ganze Freude kam zum Ausbruch. «Du solltest mir einen Kuß geben!» verlangte sie und preßte lachend Ulrichs Arm an ihren Körper, als sie auf der Schwelle der Hütte standen und die niedere Tür sich in das Dunkel des Abends öffnete.
    [◁]
11
    Heilige Gespräche. Beginn
    Während des Restes von Ulrichs Aufenthalt war von Hagauer wenig mehr die Rede, aber auch auf den Einfall, daß sie ihrem Zusammentreffen Dauer geben und ein gemeinsames Leben aufnehmen wollten, kamen die Geschwister lange nicht zurück. Trotzdem schwelte das Feuer, das in dem ungezügelten Verlangen Agathes, ihren Mann zu beseitigen, als Stichflamme ausgebrochen war, unter der Asche weiter. Es breitete sich in Gesprächen aus, die zu keinem Ende kamen, und doch von neuem aufschlugen; vielleicht sollte man sagen: Agathes Gemüt suchte nach einer anderen Möglichkeit, frei zu brennen.
    Gewöhnlich stellte sie im Beginn solcher Gespräche eine bestimmte und persönliche Frage, deren innere Form «darf ich oder darf ich nicht?» war. Die Gesetzlosigkeit ihres Wesens hatte bis dahin die traurige und ermüdete Gestalt der Überzeugung gehabt: «Ich darf alles, aber ich will ohnehin nicht», und so machten die Fragen seiner

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