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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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enttäuschen. Ich erkläre dir, wenn du von mir moralische Ratschläge verlangen solltest, so werde ich dich enttäuschen. Ich meine, wir haben nichts Bestimmtes voneinander zu fordern; wir alle zusammen, meine ich: In Wahrheit hätten wir nicht Taten von einander zu fordern, sondern ihre Voraussetzungen erst zu schaffen; so ist mein Gefühl!»
    «Wie sollte man das denn tun?!» meinte Agathe. Sie bemerkte wohl, daß Ulrich von der großen allgemeinen Rede, womit er begonnen hatte, abgekommen und in etwas ihn persönlicher Angehendes geraten war, aber für ihren Geschmack war auch dieses zu allgemein. Sie hatte, wie man weiß, ein Vorurteil gegen allgemeine Untersuchungen und hielt jede Anstrengung, die sozusagen über ihre Haut hinausging, ziemlich für aussichtslos; mit Sicherheit tat sie es, insofern sie sich selbst bemühen sollte, aber mit Wahrscheinlichkeit dehnte sie es auch auf die allgemeinen Behauptungen anderer aus. Dennoch verstand sie Ulrich recht gut. Es fiel ihr auf, daß ihr Bruder, während er seinen Kopf gesenkt hielt und leise gegen die Tatkraft sprach, mit der Klinge des Taschenmessers, das er, ohne davon zu wissen, nicht aus den Fingern ließ, Schnitte und Striche in die Tischplatte kerbte, und es waren an seiner Hand alle Sehnen gespannt. Die gedankenlose, aber beinahe leidenschaftliche Bewegung dieser Hand, und daß er von Agathe so aufrichtig gesagt hatte, sie sei jung und schön, das war ein sinnloser Zwiegesang über dem Orchester der anderen Worte, dem sie auch gar keinen Sinn verlieh, außer daß sie hier saß und zusah.
    «Was man tun sollte?» erwiderte Ulrich in der gleichen Weise wie bisher, «Ich habe bei unsrer Kusine einmal Graf Leinsdorf den Vorschlag gemacht, daß er ein Weltsekretariat der Genauigkeit und Seele gründen solle, damit auch die Leute, die nicht in die Kirche gehn, wüßten, was sie zu tun haben. Natürlich habe ich das nur zum Spaß gesagt, denn wir haben zwar seit langer Zeit für die Wahrheit die Wissenschaft geschaffen, aber wenn man für das, was übrig bleibt, etwas Ähnliches verlangen wollte, müßte man sich heute beinahe noch einer Torheit schämen. Und doch würde uns alles, was wir zwei bisher gesprochen haben, zu diesem Sekretariat führen!» Er hatte seine Rede aufgegeben und lehnte sich aufgerichtet gegen seine Bank zurück. «Ich löse mich wohl wieder auf, wenn ich hinzufüge: aber wie würde das heute ausfallen!?» fragte er. Da Agathe nicht antwortete, wurde es still. Ulrich sagte nach einer Weile: «Übrigens glaube ich manchmal selbst, daß ich diese Überzeugung nicht aushalten kann! Als ich dich vorhin stehen sah,» fuhr er halblaut fort «dort auf der Schanze, ich weiß nicht warum, hatte ich ein wildes Bedürfnis, plötzlich etwas zu tun. Ich habe ja früher manchmal wirklich etwas Unüberlegtes getan; der Zauber besteht darin: wenn es geschehen war, so war, neben mir, noch etwas da. Manchmal kann ich mir denken, daß ein Mensch sogar durch ein Verbrechen glücklich wird, weil es ihm einen gewissen Ballast gibt, und dadurch vielleicht eine stetigere Fahrt.»
    Auch diesmal antwortete seine Schwester nicht gleich. Er betrachtete sie ruhig, vielleicht sogar forschend, aber ohne daß sich das Erlebnis, von dem er sprach, wiederholte, ja eigentlich ohne daß er überhaupt etwas dachte. Nach einer kleinen Weile fragte sie ihn: «Würdest du mir böse sein, wenn ich ein Verbrechen beginge?»
    «Was soll ich nun wohl darauf antworten?!» meinte Ulrich, der sich wieder über sein Messer gebeugt hatte.
    «Gibt es keine Entscheidung:»
    «Nein, es gibt heute keine wirkliche Entscheidung.»
    Danach sagte Agathe: «Ich möchte Hagauer umbringen.»
    Ulrich zwang sich, nicht aufzublicken. Die Worte waren leicht und leise durch sein Ohr gegangen, aber als sie vorbei waren, ließen sie im Gedächtnis etwas zurück wie eine breite Radspur. Er hatte die Betonung sofort vergessen, er hätte das Gesicht sehen müssen, um zu wissen, wie die Worte zu verstehen seien, aber er wollte dem auch nicht einmal so viel Wichtigkeit beimessen. «Schön,» sagte er «warum solltest du es auch nicht tun! Wen gäbe es heute überhaupt, der so etwas nicht schon gewünscht hätte?! Tu’s doch, wenn du wirklich kannst! Es ist gerade so, als ob du gesagt hättest: ich möchte ihn für seine Fehler lieben!» Nun erst richtete er sich wieder auf und sah seiner Schwester ins Gesicht. Es war verstockt und überraschend aufgeregt. Den Blick auf ihrem Gesicht lassend, erklärte er

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