Gesammelte Werke
sie gesessen hatte, herabgestiegen und hatte ihren Arm um seine Schulter gelegt, ohne zu antworten. Das war eine ungewohnte Zärtlichkeit, denn außer den beiden Küssen, dem am Abend ihrer ersten Begegnung und dem vor wenigen Tagen, als sie den Heimweg aus der Schäferhütte antraten, hatte sich die natürliche geschwisterliche Sprödigkeit noch nicht zu mehr als Worten oder kleinen Freundlichkeiten gelöst, und auch jene beiden Male war die Wirkung der vertraulichen Berührung durch die des Unerwarteten wie des Übermütigen verdeckt worden. Diesmal aber dachte Ulrich gleich an das Strumpfband, das seine Schwester warm statt vieler Worte dem Toten mitgegeben hatte. Und es fuhr ihm auch durch den Kopf: «Es ist doch sicher, daß sie einen Liebhaber besitzt; aber sie scheint sich nicht viel aus ihm zu machen, denn sonst hielte sie sich nicht mit solcher Ruhe hier auf!» Es machte sich geltend, daß sie eine Frau war, die unabhängig von ihm ein Leben als Frau geführt habe und es auch weiter führen werde. Seine Schulter empfand schon an der ruhenden Gewichtsverteilung die Schönheit ihres Arms, und an der Seite, die seiner Schwester zugewandt war, fühlte er schattenhaft die Nähe ihrer blonden Achselhöhle und den Umriß ihres Busens. Um aber nicht so dazusitzen und widerstandslos der stillen Umarmung preisgegeben zu sein, umfaßte er mit seiner Hand die nahe dem Hals ruhenden Finger der ihren und übertönte mit dieser Berührung die andere. «Weißt du, es ist etwas kindisch, was wir da reden» sagte er nicht ohne Mißmut. «Die Welt ist voll tätiger Entscheidung, und wir sitzen da und reden in fauler Üppigkeit von der Süßigkeit des Gutseins und den theoretischen Töpfen, in die man sie füllen könnte!»
Agathe befreite ihre Finger, ließ aber die Hand wieder auf ihren Platz zurückkehren. «Was liest du da eigentlich all die Tage?» fragte sie.
«Du weißt es doch,» erwiderte er «siehst mir ja oft genug hinter dem Rücken ins Buch!»
«Aber ich werde nicht recht klug daraus.»
Er konnte sich nicht entschließen, darüber Rede zu stehn. Agathe, die nun einen Stuhl herangezogen hatte, kauerte hinter ihm und hatte ihr Gesicht einfach friedlich in sein Haar gelegt, als schliefe sie darin. Ulrich wurde davon wunderlich an den Augenblick erinnert, wo sein Feind Arnheim den Arm um ihn geschlungen hatte und die ungeregelt strömende Berührung eines anderen Wesens wie durch eine Bresche in ihn eingedrungen war. Aber diesmal drängte seine eigene Natur nicht die fremde zurück, sondern es drängte ihr etwas entgegen, das unter dem Geröll von Mißtrauen und Abneigungen begraben gewesen war, mit dem sich das Herz eines Menschen füllt, der längere Zeit gelebt hat. Agathes Verhältnis zu ihm, das zwischen Schwester und Frau, Fremder und Freundin schwebte und mit keiner von allen gleichzusetzen war, bestand auch nicht, worüber er schon oft nachgedacht hatte, in einer Übereinstimmung der Gedanken oder Gefühle, die besonders weit gegangen wäre; aber es war, wie er in diesem Augenblick fast verwundert bemerkte, völlig eins mit der in verhältnismäßig wenigen Tagen aus unzähligen Eindrücken, die sich in Kürze nicht wiederholen ließen, entstandenen Tatsache geworden, daß Agathes Mund ohne jeden anderen Anspruch auf seinem Haar ruhte und daß das Haar warm und feucht von ihrem Atem wurde. Das war so geistig wie körperlich; denn, als Agathe ihre Frage wiederholte, überkam Ulrich ein Ernst, wie er ihn seit gläubigen Jugendtagen nicht mehr gefühlt hatte, und ehe sich diese Wolke schwerelosen Ernstes wieder verflüchtigte, die vom Raum hinter seinem Rücken bis zum Buch, worauf seine Gedanken ruhten, durch den ganzen Körper reichte, hatte er eine Antwort gegeben, die ihn mehr durch ihren völlig ironielosen Ton als den Inhalt überraschte: er sagte: «Ich unterrichte mich über die Wege des heiligen Lebens.»
Er hatte sich erhoben; aber nicht, um sich von seiner Schwester zu entfernen, indem er sich einige Schritte von ihr aufstellte, sondern um sie von dort sehen zu können. «Du brauchst nicht zu lachen» sagte er. «Ich bin nicht fromm; ich sehe mir den heiligen Weg mit der Frage an, ob man wohl auch mit einem Kraftwagen auf ihm fahren könnte!»
«Ich habe nur gelacht,» erwiderte Agathe «weil ich so neugierig bin, was du sagen wirst. Die Bücher, die du mitgebracht hast, sind mir unbekannt, aber es kommt mir vor, daß sie mir nicht ganz unverständlich sind.»
«Du kennst das?» fragte ihr
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