Gesammelte Werke
Gedächtnis, das ohnehin niemals seine Eindrücke leicht in Allgemeines auflöste, nun das Gewesene und Fürchterliche Stunde um Stunde gegenwärtig blieb wie ein Leichnam, der in ein weißes Tuch gehüllt ist, das beseligte sie trotz aller Qual, die mit solcher Genauigkeit der Erinnerung verbunden war, denn es wirkte ebenso wie eine geheimnisvoll verspätete Andeutung, daß noch nicht alles vorbei sei, und bewahrte ihr im Verfall des Gemüts eine ungewisse, aber edelmütige Spannung. In Wahrheit lief freilich alles das nur darauf hinaus, daß sie wieder den Sinn ihres Daseins verloren hatte und sich mit Willen in einen Zustand versetzte, der nicht zu ihren Jahren paßte; denn nur alte Menschen leben so, daß sie bei den Erfahrungen und Erfolgen einer vergangenen Zeit verharren und vom Gegenwärtigen nicht mehr berührt werden. Zu Agathens Glück faßt man aber in dem Alter, worin sie sich damals befand, seine Vorsätze wohl für die Ewigkeit, doch wiegt ein Jahr dafür beinahe schon wie eine halbe, und so konnte es ihr auch nicht daran fehlen, daß sich nach einiger Zeit die unterdrückte Natur und die gefesselte Phantasie gewaltsam befreiten. Wie das geschah, war in seinen Einzelheiten recht gleichgültig; einem Mann, dessen Bemühungen unter anderen Umständen wohl nie vermocht hätten, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen, gelang es, er wurde ihr Geliebter, und dieser Versuch einer Wiederholung endete nach einer sehr kurzen Zeit fanatischer Hoffnung in leidenschaftlicher Ernüchterung. Agathe fühlte sich nun von ihrem wirklichen wie von ihrem unwirklichen Leben ausgespien und unwürdig hoher Vorsätze. Sie gehörte zu jenen heftigen Menschen, die sich sehr lange reglos und abwartend verhalten können, bis sie an irgend einer Stelle mit einemmal in alle Verwirrungen geraten, und faßte darum in ihrer Enttäuschung bald einen neuen, unüberlegten Entschluß, der, in Kürze gesagt, darin bestand, daß sie sich in entgegengesetzter Weise bestrafte, als sie gesündigt hatte, indem sie sich dazu verurteilte, das Leben mit einem Mann zu teilen, der ihr einen leichten Widerwillen einflößte. Und dieser Mann, den sie sich zur Strafe ausgesucht hatte, war Hagauer.
«Das war nun freilich weder gerecht, noch rücksichtsvoll gegen ihn gehandelt!» gestand sich Agathe ein, und es muß zugegeben werden, daß es sogar in diesem Augenblick zum ersten Mal geschah, denn Gerechtigkeit und Rücksicht sind bei jungen Leuten keine beliebten Tugenden. Immerhin war auch ihre «Selbstbestrafung» in diesem Zusammenleben keine unbeträchtliche gewesen, und Agathe prüfte nun diese Angelegenheit weiter. Sie war fernab gekommen, und auch Ulrich suchte irgend etwas in seinen Büchern und hatte scheinbar vergessen, das Gespräch fortzuführen. «In früheren Jahrhunderten» dachte sie «wäre ein Mensch in meiner Stimmung in ein Kloster eingetreten» und daß sie statt dessen geheiratet hatte, war nicht frei von einer unschuldigen Komik, die ihr bisher entgangen war. Diese Komik, die ihr jugendlicher Sinn nicht früher bemerkt hatte, war allerdings keine andere als die der gegenwärtigen Zeit, die das Bedürfnis nach Weltflucht schlimmstenfalls in einem Touristengasthof, gewöhnlich aber in einem Alpenhotel befriedigt und sogar das Bestreben hat, die Strafanstalten nett zu möblieren. Es spricht daraus das tiefe europäische Bedürfnis, nichts zu übertreiben. Kein Europäer geißelt sich, beschmiert sich mit Asche, schneidet sich die Zunge ab, gibt sich wirklich hin oder zieht sich auch nur von allen Menschen zurück, vergeht vor Leidenschaft, rädert oder spießt heute noch; aber jeder hat zuweilen das Bedürfnis danach, so daß es schwer zu sagen ist, worin eigentlich das Vermeidenswerte liege, ob im Wünschen oder im Nichttun. Warum sollte also gerade ein Asket hungern; das bringt ihn nur auf störende Einbildungen?! Eine vernünftige Askese besteht in der Abneigung gegen das Essen bei ständig gut unterhaltener Ernährung! Eine solche Askese verspricht Dauer und erlaubt dem Geist jene Freiheit, die er nicht hat, wenn er in leidenschaftlicher Auflehnung vom Körper abhängig ist! Solche bitter-lustige Erklärungen, die sie von ihrem Bruder gelernt hatte, taten Agathe nun kräftig wohl, denn sie zerlegten das «Tragische», woran starr zu glauben ihrer Unerfahrenheit lange wie eine Verpflichtung vorgekommen war, in Ironie und eine Leidenschaft, die weder einen Namen, noch ein Ziel hatte und schon darum keineswegs mit dem abgeschlossen
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