Gesammelte Werke
war, was sie erlebt hatte.
Auf diese Weise machte sie überhaupt, seit sie mit ihrem Bruder beisammen war, die Wahrnehmung, daß in die große Spaltung zwischen verantwortungslosem Leben und gespenstischer Phantasie, die sie erlitten hatte, eine erlösende und das Gelöste von neuem bindende Bewegung kam. Sie besann sich zum Beispiel jetzt während des durch Bücher und Erinnerungen vertieften Schweigens, das zwischen ihr und ihrem Bruder herrschte, auf die Beschreibung, die ihr Ulrich davon gegeben hatte, wie er ziellos gehend durch die Stadt gedrungen und dabei von der Stadt durchdrungen worden sei: es erinnerte sehr genau an die wenigen Wochen ihres Glücks; und es war auch richtig, daß sie gelacht hatte, ja sie hatte ganz unbegründet und unsinnig gelacht, als er ihr das erzählte, weil sie bemerkte, daß etwas von diesem Verkehren der Welt, diesem seligen und komischen Umstülpen, von dem er sprach, selbst in den wulstigen Lippen Hagauers war, wenn sie sich zum Kuß wölbten. Freilich als Schauer; aber ein Schauer, dachte sie, ist auch im hellen Licht des Mittags, und irgendwie hatte sie daran gefühlt, daß noch nicht alle Möglichkeiten für sie vorbei wären. Irgendein Nichts, eine Unterbrechung, die zwischen Vergangenheit und Gegenwart immer gelegen hatte, war in letzter Zeit fortgeflogen. Sie sah heimlich um sich. Das Zimmer, worin sie sich befand, hatte einen Teil der Räume gebildet, in denen ihr Schicksal entstanden war; daran dachte sie jetzt, solange sie hier war, zum ersten Mal. Denn hier war sie, wenn sie den Vater aus dem Haus wußte, mit ihrem Jugendgespielen zusammengekommen, als sie den großen Beschluß faßten einander zu lieben, hier hatte sie manchmal auch den «Unwürdigen» empfangen, war mit verstohlenen Tränen der Wut oder der Verzweiflung an den Fenstern gestanden, und hier hatte sich schließlich, väterlich gefördert, auch die Bewerbung Hagauers abgespielt. So lange bloß unbeachtete Rückseite der Geschehnisse, wurden die Möbel, Wände, das eigentümlich eingeschlossene Licht nun im Augenblick des Wiedererkennens wunderlich handfest, und das abenteuerlich darin Vergangene bildete eine so körperliche, gar nicht mehr zweideutige Vergangenheit, als wäre es Asche oder verkohltes Holz. Nur noch das komisch-schattenhafte Gefühl des Gewesenen, dieser wunderliche Kitzel, den man angesichts alter, zu Staub vertrockneter Spuren seiner selbst fühlt und im Augenblick, wo man ihn fühlt, weder verscheuchen, noch fassen kann, war zurückgeblieben und wurde fast unerträglich stark.
Agathe vergewisserte sich, daß Ulrich nicht auf sie achte, und öffnete vorsichtig ihr Kleid an der Brust, wo sie auf der Haut die Kapsel mit dem kleinen Bild verwahrte, das sie durch Jahre nicht von sich gelassen hatte. Sie ging ans Fenster und tat als sähe sie hinaus. Behutsam ließ sie den scharfen Rand der winzigen goldenen Auster aufspringen und betrachtete verstohlen ihren toten Geliebten. Er hatte volle Lippen und weiches, dichtes Haar, und der kecke Blick des Zwanzigjährigen sprang aus einem Gesicht, das noch halb in der Eischale stak. Sie wußte lange nicht, was sie dachte, aber mit einem Mal dachte sie: «Mein Gott, ein einundzwanzigjähriger Mensch!»
Was sprechen so junge Leute miteinander? Welche Bedeutung geben sie ihren Angelegenheiten? Wie komisch und anmaßend sind sie oft! Wie täuscht sie die Lebhaftigkeit ihrer Einfälle über deren Wert! Agathe wickelte neugierig alte Aussprüche aus Seidenpapier der Erinnerung, die sie als wunder wie klug darin aufbewahrt hatte: Mein Gott, das war ja beinahe bedeutend, dachte sie; aber eigentlich ließ sich selbst das nicht mit Sicherheit behaupten, wenn man sich nicht den Garten vorstellte, worin es gesprochen worden war, mit den sonderbaren Blumen, deren Bezeichnung sie nicht wußten, den Schmetterlingen, die sich wie müde Trunkenbolde auf jene setzten, und dem Licht, das über ihre Gesichter floß, als ob Himmel und Erde darin aufgelöst wären. Wenn sie sich daran maß, so war sie heute eine alte und erfahrene Frau, obwohl die Zahl der vergangenen Jahre nicht gar groß war, und sie bemerkte ein wenig verwirrt das Mißverhältnis, daß sie, die Siebenundzwanzigjährige, bis jetzt noch den Zwanzigjährigen geliebt hatte: er war viel zu jung für sie geworden! Sie fragte sich: «Welche Gefühle müßte ich eigentlich haben, wenn mir, in meinem Alter, dieser knabenhafte Mann wirklich das Wichtigste sein sollte?!» Es wären wohl recht sonderbare
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