Gesammelte Werke
Wirklichkeit gehört: aber das wird bereits nicht mehr anerkannt, wenn es auch noch erkannt werden sollte. Ich möchte sagen: die Einzelheiten besitzen nicht mehr ihren Egoismus, durch den sie unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, sondern sie sind geschwisterlich und im wörtlichen Sinn ‹innig› untereinander verbunden. Und natürlich ist auch keine ‹Bildfläche› mehr da, sondern irgendwie geht alles grenzenlos in dich über.»
Nun übernahm wieder Agathe lebhaft die Beschreibung: «Jetzt brauchst du bloß statt Egoismus der Einzelheiten Egoismus der Menschen zu sagen,» rief sie aus «so ist es das, was man so schwer ausdrücken kann: ‹Liebe deinen Nächsten!› heißt nicht, liebe ihn so, wie ihr seid, sondern es bezeichnet eine Art Traumzustand!»
«Alle Sätze der Moral» bestätigte Ulrich «bezeichnen eine Art Traumzustand, der aus den Regeln, in die man ihn faßt, bereits entflohen ist!»
«Eigentlich gibt es dann gar kein Gut und Bös, sondern nur Glaube – oder Zweifel!» rief Agathe aus, der jetzt der sich selbst tragende ursprüngliche Zustand des Glaubens so nahe zu sein schien und ebenso sein Verlust in der Moral, von dem ihr Bruder gesprochen hatte, als er sagte, Glaube könne nicht eine Stunde alt werden.
«Ja, es steht in dem Augenblick, wo man dem unwesentlichen Leben entschlüpft, alles in einer neuen Beziehung zu einander» stimmte Ulrich bei. «Fast möchte ich sagen, in gar keiner Beziehung. Denn sie ist eine gänzlich unbekannte, über die wir keinerlei Erfahrung haben, und alle anderen Beziehungen sind verlöscht; aber diese eine ist trotz ihrer Dunkelheit so deutlich, daß man sie nicht leugnen kann. Sie ist stark, aber sie ist unfaßbar stark. Man möchte auch sagen: Gewöhnlich blickt man etwas an, und der Blick ist wie ein Stäbchen oder ein gespannter Faden, woran sich Auge und Anblick gegenseitig stützen, und irgendein großes Gewirk von solcher Art stützt jede Sekunde; wogegen jetzt in dieser einen eher etwas Schmerzlich-Süßes die Augenstrahlen auseinanderzieht.»
«Man besitzt nichts auf der Welt, man hält nichts mehr fest, man wird von nichts festgehalten» sagte Agathe. «Es ist alles wie ein hoher Baum, an dem sich kein Blatt regt. Und man kann nichts Niedriges tun in diesem Zustand.»
«Man sagt, es könne in diesem Zustand nichts geschehn, was nicht mit ihm übereinstimmte» ergänzte Ulrich. «Ein Verlangen ‹ihm anzugehören› ist der einzige Grund, die liebevolle Bestimmung und die einzige Form alles Tun und Denkens, die in ihm statthaben. Er ist etwas unendliches Ruhendes und Umfassendes, und alles, was in ihm geschieht, mehrt seine ruhig steigende Bedeutung; oder es mehrt sie nicht, dann ist es das Schlechte, aber das Schlechte kann nicht geschehn, weil im gleichen Augenblick die Stille und Klarheit zerreißt und der wunderbare Zustand aufhört.» Ulrich sah seine Schwester prüfend an, ohne daß sie es merken sollte; er hatte doch immer das Gefühl, man müßte jetzt bald aufhören. Aber Agathes Gesicht war verschlossen; sie dachte an lang Vergangenes. Sie antwortete: «Ich wundere mich über mich selbst, aber es hat wirklich eine kurze Zeit gegeben, wo ich Neid, Bosheit, Eitelkeit, Habsucht und ähnliches nicht kannte; es ist kaum noch zu glauben, aber mir kommt vor, sie wären damals mit einem Schlag nicht nur aus dem Herzen, sondern auch aus der Welt verschwunden gewesen! Man kann sich dann nicht bloß selbst nicht niedrig verhalten, sondern auch die anderen können es nicht. Ein guter Mensch macht alles gut, was mit ihm in Berührung kommt, die anderen mögen gegen ihn unternehmen, was sie wollen: in dem Augenblick, wo es in seinen Bereich eintritt, wird es von ihm verändert!»
«Nein,» fiel Ulrich ein «ganz so ist es nicht; im Gegenteil wäre es so eins der ältesten Mißverständnisse! Denn ein guter Mensch macht die Welt nicht im geringsten gut, er bewirkt überhaupt nichts an ihr, er sondert sich nur von ihr ab!»
«Er bleibt doch mitten in ihr!?»
«Er bleibt mitten in ihr, doch ist ihm so, als ob der Raum aus den Dingen gezogen würde oder irgend etwas Imaginäres geschähe: es ist das schwer zu sagen!»
«Ich habe trotzdem die Vorstellung, daß einem ‹hochgemuten› Menschen – das Wort fällt mir nur so ein! – niemals etwas Niedriges in den Weg tritt; das mag ein Unsinn sein, aber es ist eine Erfahrung.»
«Es mag eine Erfahrung sein,» entgegnete Ulrich «aber es gibt auch die entgegengesetzte Erfahrung! Oder glaubst du,
Weitere Kostenlose Bücher