Gesammelte Werke
weiter, den er kaum unter einem scherzhaften Ton verbarg.
«Kehren wir zu unserer Bank im Gebirge mit der Rinderherde zurück» bat er. «Stell dir vor, irgendein Kanzleirat in fabrikneuen Lederhosen sitzt dort, mit grünen Hosenträgern, auf die ‹Grüß Gott› gestickt ist: er vertritt den reellen Gehalt des Lebens, der sich auf Urlaub befindet. Dadurch ist das Bewußtsein, das er von seinem Dasein hat, natürlich für den Augenblick verändert. Wenn er die Rinderherde ansieht, so zählt er nicht, beziffert nicht, schätzt nicht das Lebendgewicht der vor ihm weidenden Tiere, verzeiht seinen Feinden und denkt milde von seiner Familie. Die Herde ist aus einem praktischen sozusagen ein moralischer Gegenstand für ihn geworden. Es kann natürlich auch sein, daß er doch ein wenig schätzt und ziffert und nicht ganz verzeiht, aber dann wird es wenigstens umspielt sein von Waldesrauschen, Bachesmurmeln und Sonnenschein. In einem Satz kann man das so sagen: Was sonst den Inhalt seines Lebens bildet, erscheint ihm ‹fern› und ‹eigentlich unwichtig›.»
«Es ist eine Ferialstimmung» ergänzte Agathe mechanisch.
«Sehr richtig! Und wenn ihm das nichtferiale Dasein darin ‹eigentlich unwichtig› vorkommt, so heißt das nur: auf Urlaubsdauer. Das ist also heute die Wahrheit: der Mensch hat zwei Daseins-, Bewußtseins- und Denkzustände und bewahrt sich vor einem tödlichen Gespensterschreck, den ihm das einflößen müßte, auf die Weise, daß er die einen für den Urlaub von den anderen hält, für ihre Unterbrechung, Ruhe oder irgendetwas an ihnen, das er zu kennen glaubt. Mystik dagegen wäre verbunden mit der Absicht auf Dauerferien. Der Kanzleirat sollte das ehrlos nennen und augenblicklich, so wie er es gegen Ende des Urlaubs übrigens immer tut, empfinden, daß das wirkliche Leben in seiner ordentlichen Kanzlei ruhe. Und empfinden wir anders? Ob etwas in Ordnung zu bringen ist oder nicht, wird immer zuletzt darüber entscheiden, ob man es völlig ernst nimmt oder nicht; und da haben diese Erlebnisse eben wenig Glück, denn sie sind in Tausenden von Jahren über ihre uranfängliche Unordnung und Unfertigkeit nicht hinausgekommen. Und für so etwas steht der Begriff des Wahns bereit, – religiöser Wahn oder Liebeswahn, wie du willst; du kannst überzeugt sein: heute sind selbst die meisten religiösen Menschen so von der wissenschaftlichen Denkweise angesteckt, daß sie sich nicht nachzusehen trauen, was zu innerst in ihrem Herzen brennt, und jederzeit bereit wären, diese Inbrunst medizinisch einen Wahn zu nennen, auch wenn sie offiziell anders reden!»
Agathe sah ihren Bruder mit einem Blick an, darin es knisterte wie Feuer im Regen. «Nun hast du uns doch hinausmanövriert!» warf sie ihm vor, als er nicht mehr weitersprach.
«Da hast du recht» gab er zu. «Doch ist das Sonderbare: Wir haben alles das wie einen verdächtigen Brunnen verschalt, aber irgendein übrig gebliebener Tropfen dieses unheimlichen Wunderwassers brennt trotzdem ein Loch in alle unsere Ideale. Keines stimmt ganz, keines macht uns glücklich; sie weisen alle auf etwas hin, das nicht da ist: darüber haben wir heute ja genug gesprochen. Unsere Kultur ist ein Tempel dessen, was unverwahrt Wahn genannt würde, aber gleich auch seine Verwahrungsanstalt, und wir wissen nicht: leiden wir an einem Zuviel oder einem Zuwenig.»
«Vielleicht hast du dich niemals getraut, dich ganz darauf einzulassen « sagte Agathe bedauernd und stieg von ihrer Leiter herab; denn sie waren eigentlich mit dem Ordnen des schriftlichen Nachlasses ihres Vaters beschäftigt und hatten sich bloß von dieser mit der Zeit dringlich gewordenen Arbeit zuerst durch die Bücher und dann durch ihre Unterhaltung ablenken lassen. Nun fingen sie wieder an, die Verfügungen und Aufzeichnungen durchzumustern, die sich auf die Teilung ihres Vermögens bezogen, denn der Tag, auf den Hagauer vertröstet worden war, stand nahe bevor; ehe sie aber noch ernstlich damit begonnen hatten, richtete sich Agathe von den Papieren auf und fragte von neuem: «Bis zu welchem Grad glaubst du selbst an alles, was du mir erzählt hast?»
Ulrich antwortete, ohne aufzusehen. «Stell dir vor, unter der Herde befände sich, während sich dein Herz von der Welt abgewandt hat, ein böser Stier! Versuch, wirklich zu glauben, die tödliche Krankheit, von der du erzählt hast, wäre anders verlaufen, wenn dein Gefühl keine Sekunde nachgelassen hätte!» Dann hob er den Kopf und deutete auf die
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