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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Selbstlosigkeit besteht!»
    Im Dunkel des Zimmers glühte ihre Wange vor Eifer wie eine Rose, die im Schatten steht. Und Ulrich bat: «Laß uns jetzt wieder nüchterner reden; in diesen Fragen wird viel zu viel Schwindel getrieben!» Da kam ihr auch das nicht unrichtig vor. Vielleicht machte es der Ärger, der noch immer nicht ganz verflogen war, daß ihre Entzückung von der hinzugerufenen Wirklichkeit etwas zurückgedrängt wurde; aber es war keine unangenehme Empfindung, dieses unsichere Zittern der Grenze.
    Ulrich begann von dem Unfug zu sprechen, die Erlebnisse, denen ihr Gespräch galt, so auszulegen, als fände in ihnen nicht bloß eine eigentümliche Veränderung des Denkens statt, sondern es träte ein übermenschliches Denken an die Stelle des gewöhnlichen. Ob man es göttliche Erleuchtung nennte oder nach der Mode der Neuzeit bloß Intuition, er hielt es für das Haupthindernis wirklichen Verstehens. Nach seiner Überzeugung war nichts dadurch zu gewinnen, daß man Einbildungen nachgab, die einer überlegten Nachprüfung nicht standhielten. Das sei nur wie die Wachsflügel des Ikaros, die in der Höhe zerschmelzen, rief er aus; wolle man nicht bloß im Traum fliegen, dann müsse man es auf Metallflügeln erlernen.
    Und auf die Bücher weisend, fuhr er nach einer kleinen Weile fort: «Das sind christliche, jüdische, indische und chinesische Zeugnisse; zwischen einzelnen von ihnen liegt mehr als ein Jahrtausend. Trotzdem erkennt man in allen den gleichen vom gewöhnlichen abweichenden, aber in sich einheitlichen Aufbau der inneren Bewegung. Sie unterscheiden sich von einander fast genau nur um das, was von der Verbindung mit einem Lehrgebäude der Theologie und Himmelsweisheit herrührt, unter dessen schützendes Dach sie sich begeben haben. Wir dürfen also einen bestimmten zweiten und ungewöhnlichen Zustand von großer Wichtigkeit voraussetzen, dessen der Mensch fähig ist und der ursprünglicher ist als die Religionen.
    «Anderseits haben die Kirchen,» schränkte er es ein «das heißt die zivilisierten Gemeinschaften religiöser Menschen, diesen Zustand stets mit einem ähnlichen Mißtrauen behandelt, wie es ein Bürokrat der privaten Unternehmungslust entgegenbringt. Sie haben dieses schwärmende Erleben niemals ohne Vorbehalt anerkannt, im Gegenteil, sie haben große und anscheinend berechtigte Anstrengungen darauf gerichtet, an seine Stelle eine geregelte und verständliche Moral zu setzen. So gleicht die Geschichte dieses Zustands einer fortschreitenden Verleugnung und Verdünnung, die an die Trockenlegung eines Sumpfes erinnert.
    Und als das kirchliche Geistesregiment» schloß er «und sein Wortschatz veralteten, ist man begreiflicherweise dazu gekommen, unseren Zustand überhaupt nur noch für ein Hirngespinst zu halten. Warum hätte die bürgerliche Kultur, als sie an die Stelle der religiösen trat, religiöser sein sollen als diese?! Sie hat jenen anderen Zustand auf den Hund gebracht, der Erkenntnisse apportiert. Es gibt heute eine Menge Menschen, die sich über die Vernunft beklagen und uns einreden möchten, daß sie in ihren weisesten Augenblicken mit Hilfe einer besonderen, über dem Denken stehenden Fähigkeit dächten: das ist ein letzter, selbst schon ganz und gar rationalistischer, öffentlicher Rest; der letzte Rest der Trockenlegung ist Quatsch geworden! Also gestattet man den alten Zustand außer in Gedichten nur ungebildeten Personen in den ersten Wochen der Liebe als eine vorübergehende Verwirrung; das sind sozusagen verspätete grüne Blätter, die zuweilen am Holz der Betten und Katheder ausschlagen: wo er aber in sein, ursprüngliches großes Wachstum zurückfallen möchte, wird er unnachsichtlich abgegraben und ausgerodet!»
    Ulrich hatte ungefähr so lange gesprochen, wie sich ein Chirurg die Hände und Arme wäscht, um keine Keime ins Operationsfeld zu tragen; auch mit der Geduld, der Hingabe und dem Gleichmut, die in Widerspruch stehn zu der Aufregung, welche die bevorstehende Arbeit bringen wird. Nachdem er sich aber ganz sterilisiert hatte, dachte er beinahe sehnsüchtig an ein wenig Infektion und Fieber, denn er liebte die Nüchternheit ja nicht um ihrer selbst willen. Agathe saß auf einer Leiter, die dem Herabholen der Bücher diente, und gab, auch als ihr Bruder schwieg, kein Zeichen der Teilnahme; sie sah in das unendliche, meeresartige Grau des Himmels hinaus und hörte dem Schweigen ebenso zu wie zuvor den Worten. So sprach Ulrich mit einem wenigen an Trotz

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