Gesammelte Werke
Fenster oder oben auf dem Treppenabsatz, oder saß sie auch nur in ihrem Zimmer – «von dem Mantel eines unsichtbaren Nordlichts eingehüllt» wie sie ihm gestanden hatte –, so erhöhte diese ehrgeizige, von ihm gelähmte Schülerin seine Freude. Die Feder trieb dann die Einfälle vor sich her, und die großen, dunklen Augen über der scharfen, bebenden Nase begannen zu glühn. Es sollte einer der bedeutendsten Abschnitte seines neuen Buches werden, den er unter diesen Umständen zu beenden gedachte, und man sollte dieses Werk nicht ein Buch nennen dürfen, sondern einen Rüstungsbefehl für den Geist neuer Männer! Als von Clarissens Standplatz eine fremde Männerstimme zu ihm emporgedrungen war, hatte er sich unterbrochen und vorsichtig hinuntergeguckt; er erkannte Ulrich nicht wieder, aber er entsann sich seiner dunkel und fand in den die Treppen heraufkommenden Schritten weder eine Ursache, seine Tür zu schließen, noch den Kopf von seiner Arbeit zu wenden. Er trug eine dicke Wolljacke unter dem Rock und zeigte seine Unempfindlichkeit gegen Wetter und Menschen.
Ulrich wurde spazieren geführt und durfte die Begeisterung über den Meister anhören, indes dieser seinem Werk oblag.
Walter sagte: «Wenn man mit einem wie Meingast befreundet ist, begreift man erst, daß man immer unter der Abneigung gegen die anderen gelitten hat! Im Verkehr mit ihm ist alles, möchte ich sagen, wie in reinen Farben ganz ohne Grau gemalt.» Clarisse sagte: «Man hat im Verkehr mit ihm das Gefühl, daß man ein Schicksal hat; man steht ganz persönlich und voll beleuchtet da.» Walter ergänzte: «Heute zerlegt sich alles in hundert Schichten, wird undurchsichtig und verwischt: sein Geist ist wie Glas!» Ulrich erwiderte ihnen: «Es gibt Sünden- und Tugendböcke; außerdem gibt es Schafe, die ihrer bedürfen!»
Walter gab es ihm zurück: «Es ist zu erwarten gewesen, daß dir dieser Mensch nicht passen wird!»
Clarisse rief aus: «Du hast einmal behauptet, daß man nicht nach der Idee leben kann: erinnerst du dich? Meingast kann es!» Walter sagte bedächtiger: «Ich könnte natürlich manches gegen ihn einwenden –» Clarisse unterbrach ihn: «Man fühlt Lichtschauder in sich, wenn man ihm zuhört.» Ulrich entgegnete: «Besonders schöne Männerköpfe sind gewöhnlich dumm; besonders tiefe Philosophen sind gewöhnlich flache Denker; in der Dichtung werden gewöhnlich Begabungen, die wenig über der Mittelgröße liegen, von den Zeitgenossen für groß gehalten.»
Sie ist eine merkwürdige Erscheinung, die der Bewunderung. Im Leben des Einzelnen bloß auf «Anfälle» beschränkt, bildet sie in dem der Gesamtheit eine dauernde Einrichtung. Eigentlich hätte es Walter befriedigender gefunden, in seiner und Clarissens Achtung selbst an Meingasts Stelle zu stehn, und begriff in keiner Weise, daß es nicht so war; aber irgendein kleiner Vorzug lag doch auch darin. Und das so ersparte Gefühl kam Meingast ähnlich zugute, wie wenn einer ein fremdes Kind als eigen annimmt. Und anderseits war sie gerade darum kein reines und heiles Gefühl, diese Bewunderung für Meingast, das wußte Walter selbst; eher war sie ein übertrieben gereiztes Verlangen, sich dem Glauben an ihn hinzugeben. Etwas Geflissentliches war in ihr. Sie war ein «Klaviergefühl», das ohne volle Überzeugung tobt. Das fühlte auch Ulrich heraus. Eines der ursprünglichen Bedürfnisse nach Leidenschaft, die das Leben heute in kleine Stücke bricht und bis zur Unkenntlichkeit vermengt, suchte sich da einen Rückweg, denn Walter lobte Meingast mit einer ähnlichen Wut, wie eine Zuhörerschaft im Theater über alle Grenzen ihrer eigentlichen Meinung hinaus Gemeinplätzen applaudiert, durch die man ihr Beifallsbedürfnis reizt; er lobte ihn in einem jener Notzustände der Bewunderung, für die sonst die Feste und Feiern, die großen Zeitgenossen oder Ideen und die Ehren da sind, die ihnen erwiesen werden, wobei man mittut und keiner richtig weiß, für wen oder wofür, und jeder innerlich bereit ist, am nächsten Tag doppelt so gemein zu sein als sonst, um sich nichts vorwerfen zu müssen. So dachte Ulrich über seine Freunde und hielt sie durch spitze Bemerkungen in Bewegung, die er von Zeit zu Zeit gegen Meingast richtete; denn wie jeder Mensch, der es besser weiß, hatte er sich schon unzählige Male über die Begeisterungsfähigkeit seiner Zeitgenossen ärgern müssen, die fast immer fehlgreift und so auch noch das vernichtet, was die Gleichgültigkeit übrig
Weitere Kostenlose Bücher