Gesammelte Werke
Arbeitszimmer ihres Vaters gegangen, das sich nun hinter zwei geöffneten Türen beleuchtet darbot, und Ulrich, der ihr nicht gefolgt war, sah sie in diesem Rahmen stehn. Sie hielt ein Papier ans Licht und las darin. «Hat sie keine Vorstellung von dem, was sie da auf sich nimmt?!» fragte er sich. Doch der Schlüsselbund zeitgenössischer Begriffe wie nervöse Minderwertigkeit, Ausfallserscheinung, Debilität und dergleichen wollte nicht passen, und in dem schönen Anblick, den Agathe während ihres Vergehens bot, war auch weder von Habsucht, noch von Rache oder einer anderen inneren Häßlichkeit eine Spur zu entdecken. Und obwohl mit Hilfe solcher Begriffe selbst die Handlungen eines Verbrechers oder Halbirren Ulrich noch verhältnismäßig gezähmt und zivilisiert vorgekommen wären, denn da schimmern die verzerrten und verschobenen Beweggründe des gewöhnlichen Lebens in der Tiefe, machte ihn seiner Schwester wildsanfte Entschlossenheit, worin sich Reinheit und Verbrechen unterschiedslos mischten, in diesem Augenblick völlig fassungslos. Er vermochte nicht, dem Gedanken Raum zu geben, daß dieser Mensch, der ganz offen begriffen war, eine schlechte Handlung zu begehn, ein schlechter Mensch sein könne, und mußte dabei zusehn, wie Agathe ein Papier nach dem anderen aus dem Schreibtisch nahm, durchlas, zur Seite legte und ernstlich nach bestimmten Aufzeichnungen suchte. Ihre Entschlossenheit machte den Eindruck, aus einer anderen Welt auf die Ebene gewöhnlicher Entscheidungen herabgestiegen zu sein.
Während dieser Beobachtungen beunruhigte Ulrich überdies die Frage, warum er Hagauer überredet habe, gutgläubig abzureisen. Es dünkte ihn, er habe von allem Anfang an so gehandelt, als ob er das Werkzeug des Willens seiner Schwester wäre, und bis zuletzt hatte er ihr, auch wenn er widersprach, Antworten gegeben, die ihr vorwärtshalfen. Die Wahrheit mißhandle den Menschen, hatte sie gesagt: «Sehr gut gesagt, aber sie weiß doch gar nicht, was Wahrheit bedeutet!» überlegte Ulrich. «Mit den Jahren bekommt man die steife Gicht davon, aber in der Jugend ist es ein Jagd- und Segelleben!» Er hatte sich wieder gesetzt. Jetzt kam ihm plötzlich vor, daß Agathe nicht nur das, was sie von Wahrheit sage, irgendwie von ihm abgenommen habe, sondern daß ihr auch das, was sie im Nebenzimmer tue, von ihm vorgezeichnet worden sei. Er hatte doch gesagt, daß es im höchsten Zustand eines Menschen kein Gut und Böse gebe, sondern nur Glaube oder Zweifel; daß feste Regeln dem innersten Wesen der Moral widersprächen und der Glaube höchstens eine Stunde alt werden dürfe; daß man im Glauben nichts Niedriges tun könne; daß Ahnung ein leidenschaftlicherer Zustand sei als Wahrheit: Und Agathe war jetzt im Begriff, das Gebiet der moralischen Umfriedung zu verlassen und sich auf jene grenzenlose Tiefe hinauszuwagen, wo es keine andere Entscheidung gibt als die, ob man steigen wird oder fällt. Sie führte das so aus, wie sie seinerzeit die Orden aus seiner zögernden Hand genommen hatte, um sie zu vertauschen, und in diesem Augenblick liebte er sie unerachtet ihrer Gewissenlosigkeit mit dem merkwürdigen Gefühl, daß es seine eigenen Gedanken seien, die von ihm zu ihr gegangen wären und nun von ihr wieder zu ihm zurückkehrten, ärmer an Überlegung geworden, aber wie ein Wildwesen balsamisch nach Freiheit duftend. Und während er unter der Mühe, sich zu bändigen, zitterte, schlug er ihr vorsichtig vor: «Ich werde meine Abreise um einen Tag verschieben und beim Notar oder bei einem Rechtsanwalt Erkundigungen einholen. Vielleicht ist das furchtbar durchsichtig, was du tun willst!»
Aber Agathe hatte schon herausgefunden, daß der Notar, dessen sich ihr Vater seinerzeit bedient hatte, nicht mehr am Leben sei. «Kein Mensch weiß mehr von der Sache,» sagte sie «rühr nicht daran!»
Ulrich bemerkte, daß sie ein Blatt Papier genommen hatte und Versuche anstellte, die Handschrift ihres Vaters nachzuahmen.
Angezogen davon, war er nahegekommen und hinter sie getreten. Da lagen nun in Haufen die Blätter, auf denen die Hand seines Vaters gelebt hatte, deren Bewegung man beinahe noch nachfühlen konnte, und dort zauberte Agathe wie in schauspielerischer Nachahmung fast das gleiche hervor. Es war seltsam, dem zuzusehn. Der Zweck, zu dem das geschah, der Gedanke, daß es einer Fälschung diene, verschwand. Und in Wahrheit hatte sich das Agathe auch gar nicht überlegt. Es schwebte eine Gerechtigkeit mit Flammen statt mit
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