Gesammelte Werke
Gelegenheit bot, über etwas Unpersönliches zu reden, ein Vakuum entstand, das eine bittere Erschöpfung hinterließ. So wenig es ausgeschlossen war, daß dies Leidenschaft sei, so wenig mochte sie also – von der Zeit, in der sie lebte, daran gewöhnt, daß alles, was nicht praktisch sei, ohnehin nur einen Gegenstand des Glaubens, eben jenes unsicheren Unglaubens, bedeute – es ausschließen, daß noch etwas folgen werde, das allen vernünftigen Voraussetzungen widerspreche. Aber in dieser Minute, wo sie ihre Augen aufgeschlagen hatte und offen auf Ulrich gerichtet ließ, von dem nur ein dunkler Umriß wahrzunehmen war, der keine Antwort gab, fragte sie sich: «Worauf warte ich? Was soll eigentlich geschehn?»
Endlich erwiderte Ulrich: «Arnheim wollte Sie aber doch heiraten?!»
Diotima richtete sich wieder auf ihren Arm auf und sagte: «Kann man denn das Problem der Liebe lösen, indem man sich scheiden läßt oder heiratet?!»
«Mit der Schwangerschaft habe ich mich geirrt» nahm Ulrich still zur Kenntnis, da er auf den Ausruf seiner Kusine durchaus nichts zu erwidern wußte. Plötzlich sagte er aber, vom Zaun gebrochen: «Ich habe Sie vor Arnheim gewarnt!» Vielleicht fühlte er sich in diesem Augenblick verpflichtet, ihr mitzuteilen, was er davon wüßte, daß der Nabob ihrer beider Seelen mit seinen Geschäften verbunden habe, doch ließ er gleich wieder davon ab; denn er fand, daß in diesem Gespräch geradeso jedes Wort seinen alten Platz besaß wie die Gegenstände in seinem Zimmer, die er sorgsam abgestaubt nach seiner Rückkehr angetroffen hatte, als wäre er eine Minute lang tot gewesen. Diotima tadelte ihn: «Sie dürfen das nicht so leicht nehmen. Zwischen Arnheim und mir besteht eine tiefe Freundschaft; und wenn es trotzdem zuweilen auch etwas zwischen uns gibt, das ich eine große Angst nennen möchte, so kommt es gerade von der Aufrichtigkeit. Ich weiß nicht, ob Sie das je erlebt haben oder dessen fähig sind: zwischen zwei Menschen, die eine gewisse Höhe der Empfindung erreichen, kann jede Lüge derart unmöglich werden, daß man überhaupt kaum noch miteinander sprechen kann!»
Mit feinem Ohr hörte Ulrich aus diesem Tadel, daß der Eingang zu seiner Kusine Seele für ihn offener stand als sonst und weil ihn überaus erheitert hatte, was sie unfreiwillig davon gestand, daß sie mit Arnheim nicht reden könne, ohne zu lügen, empfahl er seine Aufrichtigkeit eine Weile dadurch, daß auch er nichts sagte, und beugte sich dann, da sich Diotima inzwischen wieder hingelegt hatte, über ihren Arm, um in freundschaftlich sanfter Weise dessen Hand zu küssen. Leicht wie Hollundermark ruhte sie in der seinen und blieb nach dem Kuß dort liegen. Der Puls rann über seine Fingerspitzen. Der puderzarte Geruch der Nähe blieb wie ein Wölkchen an seinem Gesicht hängen. Und obgleich dieser Handkuß bloß ein galanter Scherz gewesen war, hatte er mit einer Untreue jene bittere Hinterlassenschaft der Lust gemeinsam, sich so nah an eine andere Person gebeugt zu haben, daß man aus ihr trank wie ein Tier und das eigene Bild nicht mehr aus dem Wasser zurückkommen sah. «Was denken Sie?» fragte Diotima. Ulrich schüttelte bloß den Kopf und gab ihr dadurch – im Dunkel, das nur noch von einem letzten samtenen Schimmer erhellt wurde – von neuem Gelegenheit, vergleichende Studien über Schweigen anzustellen. Ein wundervoller Satz kam ihr ins Gedächtnis: «Es gibt Menschen, mit denen sich der größte Held nicht zu schweigen getraute.» Oder es war der richtige Wortlaut dem ähnlich. Sie glaubte sich zu erinnern, daß es ein Zitat sei; Arnheim hatte es gebraucht, und sie hatte es auf sich bezogen. Und außer Arnheims Hand hatte sie seit den ersten Wochen ihrer Ehe keines anderen Mannes Hand länger als zwei Sekunden in der ihren gehalten, nur mit Ulrichs Hand geschah das jetzt. Sie übersah in ihrer Selbstbefangenheit, wie das weiterging, fand sich aber einen Augenblick später angenehm überzeugt davon, daß sie völlig recht gehabt habe, als sie die vielleicht noch kommende, vielleicht unmögliche Stunde der höchsten Liebe nicht tatenlos abwartete, sondern die Zeit der zaudernden Entscheidung dazu benutzte, sich etwas mehr ihrem Gatten zu widmen. Verheiratete Menschen haben es sehr gut: wo andere ihren Geliebten die Treue brächen, dürfen sie sagen, daß sie sich auf ihre Pflicht besännen; und weil sich Diotima sagte, sie habe, was immer kommen möge, auf dem Platz, wohin sie vom Schicksal gestellt
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