Gesammelte Werke
worden sei, einstweilen ihre Pflicht zu tun, hatte sie den Versuch unternommen, die Fehler ihres Gatten auszugleichen und ihm etwas mehr Seele beizubringen. Wieder fiel ihr ein Dichterwort ein: ungefähr besagte es, daß es keine schlimmere Verzweiflung gebe, als mit einem Menschen in ein gemeinsames Schicksal verflochten zu sein, den man nicht liebe, und auch das bewies, daß sie sich bemühen mußte, etwas für Tuzzi zu empfinden, solange ihr Schicksal sie noch nicht getrennt hätte. In verständigem Gegensatz zu den unberechenbaren Geschehnissen der Seele, die sie ihn nicht länger entgelten lassen wollte, hatte sie das systematisch begonnen; und mit Stolz fühlte sie die Bücher, auf denen sie lag, denn sie beschäftigten sich mit der Physiologie und Psychologie der Ehe, und irgendwie ergänzte es sich gegenseitig, daß es dunkel war, daß sie diese Bücher bei sich hatte, daß Ulrich ihre Hand hielt, daß sie ihm den großartigen Pessimismus zu verstehen gegeben hatte, den sie nun vielleicht auch in ihrer öffentlichen Tätigkeit bald durch einen Verzicht auf ihre Ideale ausdrücken werde, und Diotima drückte Ulrichs Hand von Zeit zu Zeit bei diesen Gedanken so, als ob die Koffer gepackt stünden, um von allem Gewesenen Abschied zu nehmen. Sie stöhnte dann leise, und eine ganz leichte Welle von Schmerz rann zur Entschuldigung durch ihren Körper; Ulrich aber erwiderte begütigend den Druck mit seinen Fingerspitzen, und nachdem sich das einigemal wiederholt hatte, dachte Diotima wohl, daß es eigentlich zuviel sei, doch sie wagte nicht mehr ihre Hand zurückzuziehn, weil diese so leicht und trocken in der seinen lag, und zuweilen sogar zitterte, daß es ihr selbst wie ein unzulässiger Hinweis auf die Physiologie der Liebe vorkam, den sie nun um keinen Preis durch eine ungeschickte Fluchtbewegung verraten wollte.
Es war «Rachelle», die sich im Nebenzimmer zu schaffen gemacht hatte und, seit einiger Zeit eigenartig ungezogen geworden, diesem Auftritt ein Ende bereitete, indem sie jenseits der offenen Verbindungstür plötzlich das Licht einschaltete. Diotima zog rasch ihre Hand aus der Ulrichs zurück; ein von Schwerlosigkeit ausgefüllt gewesener Raum blieb einen Augenblick lang in dieser liegen. «Rachelle,» rief Diotima flüsternd «mache auch hier Licht!» Als es geschehen war, hatten die beleuchteten Köpfe etwas Aufgetauchtes, wie wenn das Dunkel noch nicht ganz von ihnen weggetrocknet wäre. Schatten lagen um Diotimas Mund und gaben ihm Nässe und Schwellung; die perlmutterfarbenen kleinen Wülste am Hals und unter den Wangen, die sonst für die Liebhaber üppiger Feinkost geschaffen zu sein schienen, waren hart wie ein Linoleumschnitt und wild mit Tinte schattiert. Auch Ulrichs Kopf ragte schwarz und weiß bemalt wie der eines auf dem Kriegspfad befindlichen Urmenschen ins ungewohnte Licht. Er blinzelte und trachtete die Aufschriften der Werke zu entziffern, von denen Diotima umgeben war, und mit Erstaunen erkannte er nun die seelen- und körperhygienische Wissensbegierde seiner Kusine, die sich in der Wahl dieser Bücher ausdrückte. «Er wird mir einmal noch etwas antun!» dachte sie plötzlich, die seinem Blick gefolgt war und von ihm beunruhigt wurde, aber es kam ihr nicht in der Form dieses Satzes zu Bewußtsein; sie fühlte sich ihrem Vetter bloß zu sehr ausgeliefert, wie sie nun im Licht unter seinen Augen lag, und hatte das Bedürfnis, sich ein sicheres Ansehen zu geben. Mit einer Gebärde, die recht überlegen sein sollte, wie es einer von allem, was es gibt, «unabhängigen» Frau zukommt, wies sie umfassend auf ihre Lektüre hin und sagte mit möglichst sachlicher Betonung: «Werden Sie es glauben, daß mir der Ehebruch manchmal als eine viel zu einfache Lösung der ehelichen Konflikte erscheint?!»
«Er ist jedenfalls die schonendste!» gab Ulrich zur Antwort und ärgerte sie durch seinen spöttischen Ton. «Ich möchte sagen, er schadet auf keinen Fall.»
Diotima warf ihm einen Blick des Vorwurfs zu und gab ihm ein Zeichen, daß Rachel vom Nebenzimmer her zuhören könne. Dann sagte sie laut: «So meine ich es gewiß nicht!» und rief ihre Zofe an, die störrisch zum Vorschein kam und mit bitterer Eifersucht zur Kenntnis nahm, daß sie hinausgewiesen werde. Durch diesen Zwischenfall hatten sich aber die Gefühle geordnet; die vom Dunkel begünstigte Einbildung, gemeinsam eine kleine Untreue zu begehn, wenn auch sozusagen unbezeichenbar und an niemandem, verflog in der Helligkeit, und
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