Gesammelte Werke
sogar jene großen Stimmungswechsel.der Geschichte entstehen, die zwischen Humanität und Grausamkeit, Sturm und Gleichgültigkeit oder anderen Widersprüchen schwanken, für die es keinen ganz ausreichenden Grund gibt. Es fuhr Ulrich durch den Kopf, daß jener kleine, unaufgeklärte Rest von Unbestimmtheit, der in jeglichem moralischen Erlebnis übrigbleibt, worüber er mit Agathe so viel gesprochen hatte, wohl eigentlich die Ursache dieser menschlichen Unsicherheit sein müsse; aber weil er sich das Glück, das in der Erinnerung an diese Gespräche lag, nicht gestatten wollte, zwang er seine Gedanken, sich davon ab- und lieber dem General zuzuwenden, der ihm als erster davon erzählt hatte, daß die Zeit jetzt einen neuen Geist bekomme, und in einer Weise erzählt hatte, deren gesunde Ärgerniskraft keinen Raum für die Lust an bezaubernden Zweifeln übrigließ. Und weil er nun schon einmal an den General dachte, fiel ihm auch dessen Bitte ein, daß er sich zwischen seiner Kusine und Arnheim um die gestörte Ordnung kümmern möge, und so gab er schließlich auf die Abschiedsrede Diotimas an die Seele schlicht zur Antwort: «Die ‹grenzenlose Liebe› ist Ihnen wohl nicht gut bekommen?!»
«Ach Sie, Sie bleiben sich immer gleich!» seufzte die Kusine und ließ sich in die Kissen zurückfallen, und dort schloß sie die Augen; denn durch Ulrichs Abwesenheit solcher geraden Fragen entwöhnt, mußte sie sich erst besinnen, wieviel sie ihm anvertraut habe. Und mit einem Mal brachte seine Nähe das Vergessene in Bewegung. Dunkel entsann sie sich eines Gesprächs mit Ulrich über «maßloses Lieben», das bei ihrem letzten oder vorletzten Beisammensein noch eine Fortsetzung gefunden hatte, worin sie sich verschwor, daß die Seelen aus dem Gefängnis des Leibes hervortreten könnten, oder sich wenigstens sozusagen mit halbem Körper hinausbeugen, und Ulrich hatte ihr darauf zur Antwort gegeben, dies seien Delirien des Liebeshungers und sie möge doch Arnheim oder ihm oder irgendwem irgend ein «Gewähren» gewähren; sogar Tuzzi hatte er in solchem Zusammenhang genannt, auch das kam ihr nun wieder ins Gedächtnis: an Vorschläge von dieser Art erinnert man sich eben wohl leichter als an das Übrige, was ein Mensch wie Ulrich redet. Und wahrscheinlich hatte sie es mit Recht damals als eine Frechheit empfunden; aber da vergangener Schmerz im Vergleich mit gegenwärtigem ein harmloser alter Freund ist, genoß es heute des Vorzugs, eine kameradschaftlich-vertraute Erinnerung zu sein. Diotima schlug also die Augen wieder auf und sagte: «Man kann wahrscheinlich auf Erden nicht vollkommen lieben!»
Sie lächelte dazu, aber unter ihrer Stirnbinde lagen Sorgenfalten, die dem Gesicht im Dämmer einen merkwürdig verzogenen Ausdruck gaben. Diotima war in Fragen, die ihr persönlich nahegingen, nicht abgeneigt, an überirdische Möglichkeiten zu glauben. Sogar das unerwartete Auftreten des Generals von Stumm am Konzil hatte sie wie das Werk von Geistern erschreckt, und als Kind hatte sie darum gebetet, daß sie niemals sterben möge. Das hatte es ihr erleichtert, auch ihrer Beziehung zu Arnheim einen überirdischen Glauben zu schenken oder, richtiger gesagt, jenen nicht vollendeten Unglauben, jenes Nicht-für-ausgeschlossen-Halten, die heute die grundlegende Glaubensbeziehung geworden sind. Wenn Arnheim nicht nur imstande gewesen wäre, aus ihrer und seiner Seele etwas Unsichtbares zu ziehen, das sich, bei fünf Meter Entfernung von ihr und ihm, in der Luft berührte, oder wenn ihre Blicke das so imstande gewesen wären zu tun, daß hinterdrein davon eine Kaffeebohne, ein Grießkorn, ein Tintenfleck, irgendeine Gebrauchsspur oder auch nur ein Fortschritt zurückgeblieben wäre, so hätte Diotima als das nächste erwartet, daß es eines Tags noch höher gehen werde, in irgendeinen von jenen überirdischen Zusammenhängen, die man sich so wenig genau vorstellen kann wie die meisten irdischen. Sie hatte auch damit Geduld, daß Arnheim in letzter Zeit öfter verreist und länger fortgeblieben war als früher und sogar an den Tagen seiner Anwesenheit überraschend stark von Geschäften in Anspruch genommen wurde. Sie gestattete sich keinen Zweifel daran, daß die Liebe zu ihr noch immer das große Ereignis in seinem Leben sei, und wenn sie wieder einmal allein zusammenkamen, so war die Erhöhung der Seelenlage augenblicklich so groß und die Berührung so wesenhaft, daß die Gefühle erschrocken verstummten, ja wenn sich nicht
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