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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Niedergeschlagenheit war fast die gleiche gewesen wie heute, und doch lagen unzählige Hoffnungsauf- und -niedergänge dazwischen. «Wie war es doch herrlich,» sagte sie «mein Freund, als wir noch an die große Idee glaubten! Heute darf ich wohl sagen, daß die Welt aufgehorcht hat, aber wie sehr bin ich selbst enttäuscht!»
    «Warum eigentliche» fragte Ulrich.
    «Ich weiß es nicht. Es hegt wohl an mir.»
    Sie wollte etwas von Arnheim anfügen, aber Ulrich wünschte zu wissen, wie man sich mit der Demonstration abgefunden habe; seine letzte Erinnerung daran war, daß er Diotima nicht angetroffen hatte, als ihn Graf Leinsdorf zu ihr schickte, um sie auf ein entschlossenes Eingreifen vorzubereiten und gleichzeitig zu beruhigen.
    Diotima machte eine hochmütige Gebärde. «Die Polizei hat einige junge Leute verhaftet und wieder freigelassen: Leinsdorf ist sehr verärgert, aber was hätte man sonst tun sollen?! Er hält jetzt erst recht an Wisnieczky fest und sagt, daß etwas geschehen müsse; aber Wisnieczky kann keine Propaganda entfalten, wenn man nicht weiß, wofür!»
    «Ich habe gehört, daß dies die Parole der Tat sein soll» schaltete Ulrich ein. Der Name des Barons Wisnieczky, der als Minister am Widerstand der deutschen Parteien gescheitert war und darum an der Spitze des Ausschusses, der für die unbekannte große patriotische Idee der Parallelaktion um Teilnahme warb, heftiges Mißtrauen erregen mußte, rief ihm lebendig das politische Walten Sr. Erlaucht vor Augen, dessen Erfolg das war. Wie es schien, hatte der unbefangene Gang der gräflich Leinsdorfschen Gedanken – vielleicht bekräftigt durch das erwartete Versagen aller Bemühungen, den Geist der Heimat und in weiterem Umkreis den Europas durch das Zusammenwirken seiner bedeutendsten Männer aufzuschrecken – nun zu der Erkenntnis geführt, daß es das Beste sei, diesem Geist einen Stoß zu geben, gleichgültig, von wo dieser komme. Möglicherweise stützte sich das in den Überlegungen Sr. Erlaucht auch auf die Erfahrungen, die man mit Besessenen gemacht hat, denen es zuweilen gut bekommen sein soll, wenn man sie rücksichtslos anschrie oder rüttelte; aber diese Mutmaßung, zu der Ulrich in Eile gelangte, ehe Diotima erwidern konnte, wurde nun durch deren Antwort unterbrochen.
    Diesmal bediente sich die Leidende wieder der Anrede: Lieber Freund. «Lieber Freund,» sagte sie «es ist etwas Wahres daran! Unser Jahrhundert dürstet nach einer Tat. Eine Tat –»
    «Aber welche Tat! Welche Art Tat?!» unterbrach Ulrich.
    «Ganz gleich! in der Tat liegt ein großartiger Pessimismus gegenüber den Worten: Leugnen wir nicht, daß in der Vergangenheit immer nur geredet worden ist: Wir haben für ewige und große Worte und Ideale gelebt; für eine Steigerung des Menschlichen; für unsere innerste Eigenart; für eine wachsende Gesamtfülle des Daseins. Wir haben eine Synthese angestrebt, wir haben für neue Schönheitsgenüsse und Glückswerte gelebt, und ich will nicht leugnen, daß das Suchen nach Wahrheit ein Kinderspiel ist gegen den ungeheuren Ernst, selbst eine Wahrheit zu werden: Aber es war eine Überspannung gegenüber dem gegenwärtigen geringen Wirklichkeitsgehalt der Seele, und wir haben in einer traumhaften Sehnsucht sozusagen für nichts gelebt!» Diotima hatte sich eindringlich am Ellbogen aufgerichtet. «Es ist etwas Gesundes daran, wenn man heute darauf verzichtet, den verschütteten Eingang zur Seele zu suchen, und lieber danach trachtet, mit dem Leben fertig zu werden, wie es ist!» schloß sie.
    Nun besaß Ulrich also neben der vermuteten Leinsdorfschen auch noch eine beglaubigte andere Auslegung der Parole der Tat. Diotima schien ihre Lektüre gewechselt zu haben; er erinnerte sich, daß er sie bei seinem Eintritt von vielen Büchern umgeben gesehen habe, aber es war schon zu finster geworden, um deren Titel zu entziffern, und es lag auch auf einem Teil von ihnen der Körper der nachdenklichen jungen Frau wie eine dicke Schlange, die sich nun noch höher aufgerichtet hatte und ihn erwartungsvoll ansah. Diotima war, nachdem sie sich seit ihren Mädchenjahren mit Vorliebe von sehr empfindsamen und subjektiven Büchern genährt hatte, offenbar, wie Ulrich aus ihren Worten schloß, von jener geistigen Erneuerungskraft ergriffen worden, die immerwährend am Werke ist, das, was sie mit den Begriffen der letzten zwanzig Jahre nicht gefunden hat, mit den Begriffen der nächsten zwanzig Jahre auch nicht zu finden; woraus zuletzt vielleicht

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