Gesammelte Werke
Nachtkästchens zu. «Ich ziehe mich rascher an als ein Mann!» rief sie ins Nebenzimmer zu Siegmund zurück, stockte aber plötzlich über dem Doppelsinn von «anziehen», da es für sie in diesem Augenblick ebensowohl Ankleiden bedeutete wie das Anziehen geheimnisvoller Schicksale. Sie vollendete rasch ihre Kleidung, steckte ihren Kopf durch die Tür und sah mit ernstem Gesicht einen nach dem anderen ihrer Freunde an. Wer das nicht für einen Scherz hielt, hätte darüber erschrecken können, daß in diesem ernsten Antlitz etwas erloschen war, das zum Ausdruck eines gewöhnlichen, gesunden Gesichts gehört hätte. Sie verbeugte sich vor ihren Freunden und sagte feierlich: «Jetzt habe ich also mein Schicksal angezogen!»; aber als sie sich wieder aufrichtete, sah sie wie gewöhnlich aus, sogar sehr reizend, und ihr Bruder Siegmund rief: «Vorwärts, marsch! Papa hat es nicht gern, wenn man zu Tisch zu spät kommt!»
Als sie zu viert zur Straßenbahn gingen, Meingast war vor dem Abschied verschwunden, blieb Ulrich mit Siegmund etwas zurück und fragte ihn, ob ihm seine Schwester nicht in letzter Zeit Sorge mache. Siegmunds glimmende Zigarette beschrieb im Dunkel einen flach aufsteigenden Bogen. «Sie ist ohne Zweifel anomal» erwiderte er. «Aber ist Meingast normal? Oder selbst Walter? Ist Klavierspielen normal? Es ist ein ungewöhnlicher Erregungszustand, verbunden mit einem Tremor in den Hand- und Fußgelenken. Für einen Arzt gibt es nichts Normales. Aber wenn Sie mich ernst fragen: Meine Schwester ist etwas überreizt, und ich denke, daß sich das bessern wird, sobald der Großmeister abgereist sein wird. Was halten Sie von ihm?» Er betonte die beiden «wird» mit einer leichten Bosheit.
«Ein Schwätzer!» meinte Ulrich.
«Nicht wahr?!» rief Siegmund erfreut aus. «Widerwärtig, widerwärtig!»
«Aber als Denker interessant, das möchte ich doch nicht ganz leugnen!» fügte er nach einer Atempause nachträglich hinzu.
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20
Graf Leinsdorf zweifelt an Besitz und Bildung
So kam es, daß Ulrich wieder bei Graf Leinsdorf erschien.
Er traf Se. Erlaucht umgeben von Stille, Devotion, Feierlichkeit und Schönheit vor dem Schreibtisch an, wie er über einem hohen Stoß Akten die Zeitung liegen hatte und in ihr las. Der reichsunmittelbare Graf schüttelte bekümmert den Kopf, nachdem er Ulrich noch einmal sein Beileid ausgesprochen hatte. «Ihr Papa ist einer der letzten wahren Vertreter von Besitz und Bildung gewesen» sagte er. «Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, wo ich mit ihm im böhmischen Landtag gesessen bin: er hat das Vertrauen verdient, das wir ihm immer geschenkt haben!»
Der Höflichkeit wegen erkundigte sich Ulrich, welche Fortschritte die Parallelaktion in der Zeit seiner Abwesenheit gemacht habe.
«Wir haben halt jetzt wegen der Schreierei auf der Straße vor meinem Haus, die Sie ja noch mitgemacht haben, eine ‹Enquete zur Feststellung der Wünsche der beteiligten Kreise der Bevölkerung inbezug auf die Reform der inneren Verwaltung› eingesetzt» erzählte Graf Leinsdorf. «Der Ministerpräsident selbst hat gewünscht, daß wir ihm das vorderhand abnehmen, weil wir als ein patriotisches Unternehmen sozusagen das allgemeine Vertrauen genießen.»
Ulrich versicherte mit ernstem Gesicht, daß jedenfalls schon der Name glücklich gewählt sei und eine gewisse Wirkung verspreche.
«Ja, auf den richtigen Ausdruck kommt viel an» meinte Se. Erlaucht nachdenklich und fragte plötzlich: «Was sagen Sie denn zu der Geschichte mit den Triestiner Gemeindeangestellten? Ich finde, daß es für die Regierung hoch an der Zeit war, sich zu einer entschlossenen Haltung aufzuraffen!» Er machte Miene, Ulrich die Zeitung, die er bei seinem Eintritt zusammengefaltet hatte, hinüberzureichen, entschloß sich aber im letzten Augenblick, sie selbst noch einmal zu öffnen, und las mit lebhaftem Eifer seinem Besuch eine langatmige Auslassung vor. «Glauben Sie, daß es einen zweiten Staat in der Welt gibt, wo so etwas möglich wäre?!» fragte er, als er damit fertig war. «Das tut die österreichische Stadt Triest nun schon seit Jahren, daß sie nur Reichsitaliener in ihre Dienste nimmt, um damit zu betonen, daß sie sich nicht zu uns, sondern zu Italien gehörig fühlt. Ich bin einmal an Kaisers Geburtstag dort gewesen: nicht eine einzige Fahne hab ich in ganz Triest gesehn, außer auf der Statthalterei, der Steuerbehörde, dem Gefängnis und den paar Kaserndächern! Wenn Sie dagegen am Geburtstag des
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