Gesammelte Werke
einer völlig anderen Tonart, als er etwa zu Ulrich gesprochen hätte, wandte er sich mit den Worten an ihn: «Was du sagst, ist wohl das gleiche, wie wenn ich selbst seit langem sage, daß man nur in reinen Farben malen solle. Man muß Schluß machen mit dem Gebrochen-Verwischten, den Zugeständnissen an die leere Luft, an die Feigheit des Blicks, der nicht mehr zu sehen gewagt hat, daß jedes Ding einen festen Umriß und eine Lokalfarbe hat: ich sage es malerisch, und du sagst es philosophisch. Aber, wenn wir auch einer Meinung sind ...» er wurde plötzlich verlegen und fühlte, daß er es vor den anderen nicht aussprechen könne, warum er Clarissens Berührung mit den Geisteskranken fürchte: «Nein, ich wünsche nicht, daß Clarisse das tut,» rief er aus «und mit meinem Einverständnis wird es nicht geschehn!»
Der Meister hatte freundlich zugehört, und dann erwiderte er ihm ebenso freundlich, als wäre nicht eines der wichtig vorgebrachten Worte in sein Ohr gedrungen: «Clarisse hat übrigens noch etwas sehr schön ausgedrückt: sie hat behauptet, daß wir alle außer der ‹Sündengestalt›, in der wir lebten, noch eine ‹Unschuldsgestalt› besäßen; man könnte das in der schönen Bedeutung auffassen, daß unsere Vorstellung unabhängig von der jämmerlichen sogenannten Erfahrungswelt einen Zugang zu einer Welt der Großartigkeit besitze, worin wir in hellen Augenblicken unser Bild nach einer tausendmal anderen Dynamik bewegt fühlen! Wie haben Sie das gesagt, Clarisse?» fragte er aufmunternd, indem er sich zu ihr wandte. «Haben Sie denn nicht behauptet, wenn es Ihnen gelänge, sich ohne Abscheu zu diesem Unwürdigen zu bekennen, bei ihm einzudringen und in seiner Zelle Tag und Nacht Klavier zu spielen ohne zu erlahmen, so müßten Sie seine Sünden gleichsam aus ihm ziehn, auf sich nehmen und mit ihnen aufsteigen?! Das ist natürlich auch nicht» bemerkte er, nun sich wieder zu Walter zurückwendend «wörtlich zu verstehn, sondern ist ein Tiefenvorgang der Zeitseele, der sich, in die Parabel von diesem Mann verkleidet, ihrem Willen eingibt ...»
Er war in diesem Augenblick unsicher, ob er nicht doch noch etwas über Clarissens Beziehung zur Geschichte des Erlösungsgedankens sagen solle oder ob es reizvoller wäre, ihr unter vier Augen noch einmal ihre Mission der Führung zu erklären; aber da war sie von ihrem Platz wie ein übermäßig ermuntertes Kind aufgesprungen, stieß den Arm mit der geballten Faust in die Höhe, lächelte verschämt-gewalttätig und schnitt ihr weiteres Lob mit dem schrillen Ausruf ab: «Vorwärts zu Moosbrugger!»
«Aber es ist ja noch keiner da, der uns Einlaß verschafft ...» ließ sich Siegmund vernehmen.
«Ich gehe nicht mit!» versicherte Walter fest.
«Ich darf keine Gefälligkeit von einem Staat der Freiheit und Gleichheit in jeder Preis- und Höhenlage in Anspruch nehmen!» erklärte Meingast.
«Dann muß uns Ulrich die Erlaubnis besorgen!» rief Clarisse aus.
Gerne stimmten die anderen dieser Entscheidung zu, durch die sie sich nach zweifellos schwerer Anstrengung bis auf weiteres beurlaubt fühlten, und selbst Walter mußte trotz seines Widerstrebens schließlich die Aufgabe übernehmen, vom nächsten Kaufmannsgeschäft den zur Hilfe ausersehenen Freund anzurufen. Als er es tat, geschah es, daß Ulrich in dem Brief, den er Agathe schreiben wollte, endgültig unterbrochen wurde. Erstaunt vernahm er Walters Stimme und hörte er die Botschaft. Man könne wohl verschieden darüber denken, fügte Walter aus eigenem hinzu, aber so gänzlich nur eine Laune sei es gewiß nicht. Vielleicht müsse man wirklich mit irgend etwas einen Anfang machen, und es sei weniger wichtig, womit. Natürlich bedeute auch das Auftreten der Person Moosbruggers in diesem Zusammenhang nur einen Zufall; aber Clarisse habe ja eine so merkwürdige Unmittelbarkeit; ihr Denken sehe immer aus wie die neuen Bilder, die in unvermischten reinen Farben gemalt seien, hart und ungefüge, aber wenn man auf diese Art eingeht, oft überraschend richtig. Er könne das am Telefon nicht ausreichend erklären; Ulrich möge ihn nicht im Stich lassen ...
Ulrich war es willkommen, daß er abgerufen wurde, und er nahm die Aufforderung an, obwohl sich die Dauer des Weges in schlechtem Verhältnis zu der knappen Viertelstunde befand, die er mit Clarisse sollte reden können; denn diese war von ihren Eltern eingeladen, mit Walter und Siegmund zum Abendbrot zu erscheinen. Auf der Fahrt wunderte sich Ulrich
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